Nach 1945 gelang es nur zwei Komponisten, über den Kreis der Neue-Musik-Afficionados hinaus im Bewusstsein der kulturellen Öffentlichkeit Anker zu werfen: Karlheinz Stockhausen und György Ligeti. Dass beide Hilfe von außen erhielten – beim einen sorgten die Beatles, beim anderen Stanley Kubrick für günstige Winde – weiß jeder, und die seltsam im rechtsfreien Raum angesiedelte Geschichte rund um „2001 – Odyssee im Weltraum“ haben wir dieser Tage mindestens einmal zu oft vernommen. Dennoch muss die Musik halten, was der Kultstatus verspricht, und da hat Ligeti eindeutig die Nase vorn. Köln feierte, wie andere auch, im Mai 2023 seinen 100. Geburtstag.
Köln: Ligeti’s Greatest Hits
Gelächter, Lust und Leidenschaft
Die Kölner Philharmonie schenkt Ligeti einen ganzen Tag. Das Abendkonzert enthält die populärsten Werke des Komponisten, der in den späten 50er-Jahren im legendären Studio für elektronische Musik des WDR wirkte. Vom „Poème Symphonique“ für 100 Metronome (erfreulich ernst genommen, ich habe es auch schon anders gehört) über die klamaukesken „Mysteries of the Macabre“, die Sara Hershkowitz mit edlem Sopran melodiöser gestaltet als man es sonst zu hören bekommt, bis hin zu „Atmosphères“ ist alles dabei. Matthias Pintscher leitet das Gürzenich-Orchester in der gut besuchten Kölner Philharmonie (28. Mai) mit Genauigkeit und Erhabenheit. Und doch ist es ein Abend der Solisten. Einmal Tabea Zimmermann, die Ligetis Bratschensonate mit jenem so runden und präsenten Ton spielt, der ihre seit 30 Jahren währende Karriere grundiert. Dann Pekka Kuusisto, der gerade erst im VAN-Magazin sein Unbehagen gegenüber dem Klassik-Betrieb zu Protokoll gab. Diesem begegnet er mit Gelächter, Lust und Leidenschaft. Das passt zu Ligetis Violinkonzert, mit all seinen Okarinas und Lotus-Flöten. Der Solist aber setzt noch eins drauf, wenn er in der Kadenz ein „Happy Birthday“ versteckt und als Zugabe einen Bartók zur Ukulele pfeift (nein: es war doch seine Geige). Pekka Kuusisto tritt auf wie ein Rockmusiker. So lange Ligeti Interpreten wie ihn hat, bleibt sein Kultstatus auf Kurs.
In einem eher verborgenen Gastspiel präsentiert am 22. Mai im Kölner Funkhaus der seit 45 Jahren in Hamburg lebende Pianist Evgeni Koroliov Ligetis „Musica Ricercata“, neben Debussy, Bartók, Kurtág und Bach. Insbesondere in den Ausschnitten aus Kurtágs Klavierkompendium „Jatekok“ offenbart Koriolov eine Meisterschaft der Farbgebung, die im Virtuosendonner sonstiger Recitals verblasst. Man reibt sich die Ohren: Ist das wirklich EIN Instrument, auf dem er spielt? Sehr klug, sehr warmherzig.
Dortmund: Jean Rondeau
Das Prinzip Arpeggio
Die Reihe der „Jungen Wilden“ am Konzerthaus Dortmund bewährt sich seit 2006 als international viel beachtetes Konzertpodum für unkonventionelle Solisten. Der französische Cembalist Jean Rondeau reiht sich hier auf ideale Weise ein, auch wenn der unmodulierbare, leise Klang seines Instrumentes gerade nicht für Wildheit gerühmt wird. Auch Rondeaus scheues Auftreten steht eher quer zum Markennamen. Seine Repertoireauswahl im Solokonzert (15. Mai) startet bei Fux‘ „Gradus ad parnassum“ und reicht bis zu Beethoven und Clementi, mit Schwerpunkt auf dem Mozart des Klavierunterrichtes. Er verwildert diese oft gespielten Stücke, indem er Fux‘ arpeggio-Prinzip auf den ganzen Abend überträgt: Töne klingen nicht über-, sondern nebeneinander, als habe der Verspätete noch darüber nachdenken müssen, ob seine Zeit wirklich schon gekommen sei. Ich empfehle Rondeaus Aufnahme der Goldberg-Variationen, insbesondere deren Aria. Der Puls schwimmt. Mit rubatösem Spiel gleicht Rondeau die mangelnde Emotionalität seines Instrumentes aus. Das gebannte Dortmunder Publikum bedankt sich herzlich für diesen intimen Abend. Ein fantastischer Musiker.
Köln: Wiener Philharmoniker unter Jakub Hrůša
Noch einmal Schostakowitschs Fünfte
Auf eine Tournee der Wiener Philharmoniker unter Jakub Hrůša, dem Chef der Bamberger Symphoniker und zukünftigen Musikdirektor des Royal Opera House, freuen sich die Klassikfans derart, dass Orchester und Dirigent auf einen Solisten verzichten. Gewagt. Die Kölner Philharmonie ist gut besucht, aber weit entfernt von ausverkauft. Vielleicht auch deswegen, weil Schostakowitschs Fünfte Symphonie hier erst vor wenigen Wochen zu hören war (Orchestre Philharmonique de Radio France unter Mikko Franck). Hrůša und die Philharmoniker harmonieren vorzüglich, die „Eifersucht“-Ouvertüre von Leoš Janáček als Einstieg spielen sie kantig und druckvoll. Der legendäre Mischklang der Philharmoniker wird sparsam spendiert, am ehesten noch im Langsamen Satz der Schostakowitsch-Symphonie. Sehr stark, ja affirmativ das Finale des Werkes, das die Zuhörerinnen und Zuhörer am 11. Mai von den Sitzen reißt. Man könnte danach ermattet und nachdenklich nach Hause gehen, aber Jakub Hrůša hat noch einen Slawischen Tanz (op. 72/2) von Antonín Dvořák auf die Pulte gelegt.
Köln: Chamber Orchestra of Europa unter Herbert Blomstedt
Fingerzeige und Augenblitze
Herbert Blomstedt, Jahrgang 1927, betritt, gestützt von der Konzertmeisterin Lorenza Borrani, gemeinsam mit dem Chamber Orchestra of Europe die Bühne (24. Mai). Das Publikum in der nicht vollen Kölner Philharmonie erkennt ihn spät, reagiert dann aber mit spontanem Jubel, so groß ist die Freude über diesen emotionalen Augenblick. Natürlich dirigiert Blomstedt im Sitzen, natürlich genügen wenige Fingerzeige und Augenblitze, um das Orchester auf eine Interpretation von Franz Berwalds Vierter Symphonie einzuschwören. Eine schöne Begegnung mit einem klassizistischen und ungemein fantasievollen Werk, das hierzulande zu selten erklingt. Wunderbar die Kombination mit Mendelssohns „Schottischer“ nach der Pause: So mitreißend, ja jugendlich habe ich die Sinfonie selten gehört. Blomstedt plant die dynamischen Verläufe in langen Perioden. Da beginnt etwa das Hauptthema im Kopfsatz mit derart leisen Streichern, dass plötzlich der rauhe Klang der tief spielenden Soloklarinette (Romain Guyot) hervorsticht. Ein kurzes Konzert, keine Zugabe – man ist buchstäblich froh über jeden Schritt, den Herbert Blomstedt geht.
Köln: Novus String Quartet
Schwerpunkt im Halbschatten
Das Novus String Quartet, gegründet 2007 in Seoul, gehört in die lange Reihe von Künstlerinnen und Künstler, deren Karriere durch einen Erfolg beim jährlich stattfindenden ARD Musikwettbewerb (hier: 2012) kräftigst angeschoben wurde. (Die ARD nimmt bei ihren Überlegungen, dieses Flaggschiff des internationalen Musiklebens auf eine biennale Frequenz einzudampfen, einen schmerzhaften Verlust in Kauf.) Ihren Abend in der Kölner Philharmonie (31. Mai) beginnen die koreanischen Musiker mit Mozarts zweitem „Haydn-Quartett“ und setzen mit den „Fünf Stücken“ von Erwin Schulhoff fort. Den Bogen von Mozarts klassischem Ebenmaß (in dem gleichwohl emotionale Abgründe klaffen) zu Schulhoffs kernigen Tanz-Rhythmen meistern die vier souverän, ihr Schwerpunkt aber liegt im Halbschatten. Sie nehmen die Musik wie ein rohes Ei, zum Forteausbruch müssen sie sich aufraffen. Schönbergs Erstes Streichquartett profitiert davon: Wie viel und wie leidenschaftlich über weite Strecken des Werkes gesungen wird, wie viele terzenseelige Passagen es gibt habe ich so noch nicht wahrgenommen. Könnte jemand das Novus String Quartet von Schönbergs Viertem überzeugen?
Köln: Acht Brücken
Störrisches und hellwaches Material
„Freihafen“ nennt das Festival „ACHT BRÜCKEN. Musik für Köln“ seine jährliche Initiative, den Kölnern alle Konzerte am 1. Mai bei freiem Eintritt zu öffnen. Das Angebot wird gerne angenommen, man blickt in neue und neugierige Gesichter. Wer Pech hat, steht vor verschlossener Tür, weil das behördenseits definierte maximale Fassungsvermögen der kleinen Säle ausgereizt ist. Beim Einlass wachsen die Schlangen der Wartenden
Das Nachmittagskonzert weist über die Grenzen der Neuen Musik hinaus. Die Elektronik-Künstlerin Aida Shirazi mischt bei „Shadows“ dezente Klänge unter das Trio Gabbeh – keine leichte Aufgabe, denn das Wiener Trio hat eine umwerfende musikalische wie physische Präsenz. Inspiriert von einer traditionellen Teppichwebart nomadisch lebender Frauen im Iran (eben dem Gabbeh) verweben auch Golnar Shahyar (Stimme), Mona Matbou Riahi (Klarinette) und Manu Mayr (Kontrabass) nordafrikanische und westasiatische Traditionen mit westeuropäischen Spieltechniken. Die immense Bandbreite der Sängerin Golnar Shahyar hallt noch lange nach.
Als Auftraggeber muss Acht Brücken in eine Reihe mit den traditionellen Neue-Musik-Festivals in Deutschland gestellt werden. So erhielt auch die diesjährige Porträtkünstlerin Rebecca Sauders den repräsentativen Auftrag, ihre beiden Ensemble-Kompositionen „Scar“ und „Skin“ zu einem Triptychon zu ergänzen: „Skull“. Bas Wiegers leitet bei der Uraufführung des Triptychons das Ensemble Modern, und man versteht in der gut besuchten Kölner Philharmonie (liegt es am freien Eintritt, dass das „Freihafen“-Konzert mehr Publikum anzieht als die Abende zuvor, oder an der gesunkenen Hemmschwelle?), warum die britische Komponistin 2019 den Ernst von Siemens Musikpreis erhielt. Sie kann eine herausragende Sopranistin wie Juliet Fraser ins rechte Licht rücken. Sie schreibt berührende Traumsequenzen nach langer, teilweiser nervöser, oft vom Schlagzeug getriebener Aktivität. Und sie erzählt auch mit neuem, störrischem und hellwachem Material Geschichten. Langer, herzlicher Beifall.
Zu einem Gipfeltreffen in Sachen zeitgenössischer Musik lädt am 5. Mai die sorgfältigst von Peter Rundel vorbereitete Basel Sinfonietta. Gemeinsam bescheren sie dem Acht-Brücken-Festival ein Programm ohne Kompromisse, in dem selbst ein 50 Jahre altes Werk von Helmut Lachenmann, das schattenhafte Klarinettenkonzert „Accanto“, unverbraucht und zukunftsweisend wirkt (Solistin: Boglárka Pecze). Von Rebecca Saunders erklingt „traces“, dramaturgisch gesehen die Schwester des 15 Jahre später entstandenen „Skin“. „DeepGrey“ aus der Feder des chinesischen Komponisten Yiquing Zhu besticht durch extravagante Klänge, die sich zu einem Hörabenteuer addieren, während der Schweizer Michael Pelzel das einzige eher flächig organisierte Stück des Abends beisteuert. Die großartige Violinsolistin Carolin Widmann flankieren akustische Streicher-Doubles im Raum, was die Wahrnehmung schärft, musikalisch aber keinen weiteren Erkenntniswert bietet. Indes: Pelzels Musik ordnet energetische Zustände, nicht Vokabular, und ich freue mich, mehr von ihm zu hören.
Das Konzert des Gürzenichorchesters am letzten Festival-Tag (7. Mai) unter seinem Chefdirigenten François-Xavier Roth heißt „Kraftwerk“. Der Titel haut auf den Tisch. Bruckners Sechste in ihrer ganzen Pracht, gespiegelt in der Uraufführung des österreichischen Komponisten Bernhard Gander. Gander verneigt sich gerne vor dem Heavy Metal, nichts liegt daher näher als eine Kombination mit Bruckner. „Evil Elves: Level Eleven“ schrieb Gander im Auftrag des Orchesters, und wie Bruckner addiert er seine Takte (in 11er- und 5er-Rhythmen), wobei Schlagwerker und Kontrabassisten (hinten positioniert) den Takt skandieren. Gander bleibt seinem ruppigen Tonfall treu. Die Gürzenich-Abonnenten nehmen das Stück trotzdem gerne auf und freuen sich, dass das solistisch gesetzte Raschèr Saxophone Quartet sie noch mit einer Zugabe streichelt.
Wuppertal: „L’incoronazione di Poppea“ von Claudio Monteverdi
Amoralisches Schmuckstück
Schließlich am 12. Mai ein Ausflug nach Wuppertal zu einer Wiederbegegnung mit Claudio Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“, die mir aus der aufregenden Hamburger Produktion von Karoline Gruber mit Alessando di Marcchi in bester Erinnerung ist. Die Produktion der Wuppertaler Bühnen präsentiert das Stück ohne Kürzungen als Kammerspiel, inszeniert von Immo Karaman. Man trägt Abendkleidung, die Kostüme von Fabian Posca setzen nur wenige farbige Akzente, die die Personen aber unmissverständlich charakterisieren, allen voran Poppea, verführerisch gesungen von der am Haus angestellten Sopranistin Ralitsa Ralinova, und Nerone, den die Schottin Catriona Morison mit Mut zur Hässlichkeit aber mit reinem Sopran verkörpert. Die kraftvolle Bearbeitung des belgischen Komponisten Philippe Boesmans filtert Monteverdis Notentext mithilfe eines kleinen modernen Instrumentariums. Dieser Klang steht oft quer zu den barocken Linien, macht sie zerbrechlich und zwingt so zum Hinhören. Dirigent Matthew Toogood verstärkt durch sorgsame Dynamik das transparente Klangbild. „Poppea“ bleibt in ihrer unschuldigen Amoralität ein Schmuckstück der 400jährigen Operngeschichte.