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Worauf hoffen? Theater Darmstadt. Foto: Christoph Becher

Worauf hoffen? Theater Darmstadt. 

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Bechers Bilanz – Oktober 2024: Kultur, große Friedensstifterin

Vorspann / Teaser

Nicht selten erhält Musiktheater gerade abseits der Metropolen Dringlichkeit. Die Häuser schlagen dann eine Brücke von dem, was war, über das, was ist, bis hin zu dem, was sein könnte – wenn wir es zulassen oder auch, wenn wir uns nicht dagegen auflehnen. Ein solcher Abend gelingt dem Staatstheater Darmstadt, freilich unter Zugriff auf konzertantes Material: Karsten Wiegand, Intendant des Hauses, vereint das so überwältigende wie pessimistische „Requiem für einen jungen Dichter“ von Bernd Alois Zimmermann mit Morton Feldmans „Rothko Chapel“ zu einem Theaterabend.

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Darmstadt: „Requiem für einen jungen Dichter“ / „Rothko Chapel“
Dass wir uns nicht an die Gurgel gehen 

Bereits der kompakte Zuschauerraum in Darmstadt zahlt auf Zimmermanns „Requiem“ ein. Die Zuspielungen (allen voran der auf vier Kanäle aufgeteilte Text von Konrad Bayer, dessen erste Worte, „Worauf hoffen?“, das Portal des Theaters prangen) erklingen aus nächster Nähe, der Chor füllt den 1. Rang aus, die Jazzer frickeln auf der Hinterbühne. Anja Petersen (Sopran) und David Pichlmaier (Bass) singen ihre Soli mit jugendlich klarem Gesang, auch sie gewinnen in der Theater-Akustik. Als Regentropfen stürzen einzelne Worte vom Bühnenhimmel herab (keine Projektion!) und lenken die Aufmerksamkeit des Publikums am 26. Oktober auf den Text. Schließlich ist das „Requiem“ als „Lingual“, wie es im Untertitel heißt, vor allem eine Sprachcollage. 

Wiegand überblendet die gesamte Aufführung mit Revolutionen, Aufständen und Volkserhebungen. Dabei mischt er, was nicht zusammengehören will: Von der Odessa-Treppe aus „Panzerkreuzer Potemkin“ rast das revolutionäre Feuer über Mao und Martin Luther King bis hin zum Sturm auf das Kapitol durch wild gewordene Trump-Fanatiker. Das passt zu einem Werk, in dem der Furor der Studentenunruhen widerhallt und O-Töne von Alexander Dubček neben die von Joseph Goebbels geraten. Dabei verblasst allerdings die christliche Tradition, in der der Komponist sein Werk und sich selbst verortete. Zimmermanns dunkler These, dass Volkszorn wenig zur Besserung beiträgt, wollen Chor und Solisten mit farbenfrohen Kostümen trotzen, aber bekanntlich heilt auch der Karneval nicht die Kalamitäten dieser Erde. Feldmans direkt anschließendes „Rothko Chapel“ haucht alle Aufregung hinweg. Die Zuschauer starren auf einen leeren Bilderrahmen aus Neonröhren, der nicht nur den Blick fokussiert, sondern auch den Theaterraum sanft erhellt. Wir sehen unsere Nachbarn. Die Introspektion, die die Malerei von Rothko wie auch die Musik von Feldman herausfordern, lenkt sich so auf das Kollektiv. Wie schaffen wir das, zwei Stunden in einen Raum eingepfercht zu sein, ohne uns an die Gurgel zu gehen? Es ist die Kultur auch eine große Friedensstifterin. 

Stuttgart: „Sancta“
Alles was creepy ist

Und noch ein christlicher Abend, der keiner sein soll: Florentina Holzinger nimmt in Stuttgart Paul Hindemiths Einakter „Sancta Susanna“ als Ausgangspunkt für eine feministische Opernperformance, die so turbulent, böse, nackert und laut ist, dass die Medien gerne einen Skandal daraus gemacht hätten. Beim Betreten des Opernhauses pöbeln mich aber keine Fundamentalisten an. Eher sorge ich mich um die über 100 Personen, die vergeblich um die letzten Restkarten anstehen. Ein so diverses Publikum wie am 27. Oktober habe ich noch nie in einem Opernhaus gesehen und schon gar nicht in Baden-Württemberg. 

Die österreichische Performancekünstlerin löst den expressionistischen Schock ein, den Hindemith seinen Zeitgenossen bereiten wollte (es steht gewissermaßen in Hindemiths Tradition, den Skandal herauszufordern). Holzinger kürzt das Stück um die Szenen zwischen Magd und Knecht und bekräftigt alles, was im Libretto von August Stramm creepy ist. Verlassen kann sie sich auf das herausragende Stuttgarter Opernorchester unter Marit Strindlund und die fantastischen Sängerinnen. Neben Caroline Melzer (Susanna) und den Damen des Opernchores setzt vor allem der scharfe, aber immer sorgfältig phrasierende Gesang der Amerikanerin Andrea Baker (als Oberin Klementia) Maßstäbe in der Aufführungsgeschichte des Werkes. Dem ekstatischen Schluss des Einakters folgt ein zweieinhalbstündiges Spektakel, das mit Reminiszenzen an Dark Metal, Horrorfilme aus dem „Conjuring“-Franchise und Monty-Python-Klamauk sowie mit spektakulärem Body-Acting aufwartet. Dramaturgisch hält Holzinger die Schrittfolge der Messe ein. Wer sich traut, beichtet coram publico seine Sünden. „Dona nobis pacem“ bitten die Chordamen demütig (und gegen das wütende Skandieren der Darmstädter Kollegen). Das punkige Ensemble berichtet im finalen Stuhlkreis von persönlichen Erfahrungen mit der Religion. Die Scheinwerfer der Kirche haben noch jede und jeden im falschen Moment erwischt, während die Sehnsucht nach dem Licht der Spiritualität weiter glimmt. Das Publikum bejubelt Holzingers Ensemble und die stolzen Opernsängerinnen. Niemand fällt in Ohnmacht.

Köln und Paris: Schönberg-Abende
Schönberg ist stärker als seine Verhohnepipelung

Zwei Schönberg-Jubiläums-Abende verfehlen ihren Gegenstand, wenn auch aus gegensätzlichen Richtungen: das stylishe, musiktheatralisch angereicherte Konzert „Verklärt – 12 Leben Schönbergs“ (zu sehen in der arte-Mediathek ) und die „Schönberg-Gala“ des Musiktheater-Ensembles Novoflot, das an drei Tagen in Köln gastierte. 

Das Konzert streift chronologisch zwölf Hauptwerke des Komponisten, die nie vollständig erklingen. Die Interpreten – das Orchestre de Paris unter Ariane Matiakh, die Sopranistin Sarah Aristidou, der Pianist David Kadouch und viele andere – garantieren eine hochkarätige Aufführung. Leider setzt Film-Regisseur Bertrand Bonello auf Erhabenheit. Schauspieler schleichen mit schwerem Augenaufschlag ihre rot ausgeleuchteten Gänge, im ersten Teil wird der Komponist auf die impressionistischen Seiten seines Œuvres reduziert, der zweite Teil ist von der Flucht vor den antisemitischen Übergriffen gezeichnet. Bonello stellt Schönberg, der sich sehr handfest in seiner Zeit verankerte, auf den Sockel des Visionärs. Dort oben bekommen wir ihn genauso wenig zu fassen wie in der Comedy von Novoflot am 8. Oktober. Dabei stimmt die Frage: Was wäre, wenn die Musik Schönbergs allgemein geliebt würde, wir aber doof geblieben sind, weil wir uns bei Opernball, Kai Pflaume und Prunksitzung amüsieren? Wenn alljährlich die „Zwölftonreihe des Jahres“ zur Wahl stünde und sich entschlossene Bieter bei der Versteigerung der Originalfrisur des Komponisten übertrumpften? Das MenschenSinfonieOrchester aus Köln spielt eine eigene Version von „Friede auf Erden“, das riesige Symphonische Jugendblasorchester der Rheinischen Musikschule Köln einen Loop aus „Pelleas und Melisande“ und einen Ausschnitt aus den Variationen op. 43a, der Tanzsportverein Blau-Weiß Berlin dreht seine Runden zur Streichersuite aus Schönbergs ersten Exil-Jahren. Es sind die weniger bekannten Kompositionen, die Novoflot präsentiert – gut so. Die Respektlosigkeit der Collage erfrischt, bleibt dann aber doch in den Fängen der postmodernen Kalauerei der Achtziger stecken. Die stärksten Momente gelingen, wenn das Asasello Quartett mit Peyee Chen „Luft von anderem Planeten“ verheißt oder Rosemary Hardy ein frühes Schönberg-Lied singt. Schönberg ist eben doch stärker als seine Verhohnepipelung.

Köln: „Elektra“ von Richard Strauss
Rachedrama ganz nah

Pilaster aus schwarzem Stein, daran Neonröhren montiert sind. Schatten der Vergangenheit flüstern im Off. Die Kölner Neuinszenierung von Richard Strauss‘ „Elektra“ deutet auf der Bühne von Piero Vinciguerra eine Verbindung von Mythos und Moderne an, die die Inszenierung von Roland Schwab nicht einlöst. 

Wie so oft ruft dieses Rachedrama nach düsterer Monochromie, mit händeringenden Sängerinnen an der Rampe, die sich in kräftige Taue verstricken. Immerhin wird das Setting von Andreas Grüter spektakulär ausgeleuchtet. Schwab fügt einen theatralisch sich windenden Bewegungschor hinzu, der vom blutigen Regime Klytämnestras kündet, die Erzählung aber mehr stört als erhellt. Drastisch zeigt Schwab, dass Orests Tat den Kreislauf aus Rache und Zerstörung lediglich beschleunigt. Bemerkenswert ist die Kölner Produktion in der Vorstellung am 13. Oktober aus musikalischen Gründen. Das Gürzenich-Orchester Köln spielt seitlich neben der Bühne, die Sängerinnen und Sänger rücken unmittelbar an die Zuschauer heran und müssen nicht das riesige Strauss-Orchester überbrüllen. Man versteht jedes Wort und hört Gesangslinien (z. B. in der Mägdeszene), die für gewöhnlich untergehen. Die Engländerin Allison Oakes singt ihre Elektra mit der geballten Erfahrung eines Dramatischen Soprans. Stark und verletzlich zugleich ist ihr Gesang, glasklar das Timbre, melodisch die Phrasierung. Astrid Kessler als Chrysothemis und Dalia Schaechter als Klytämnestra stehen ihr in nichts nach und überzeugen auch als Bühnencharaktere. Felix Bender dirigiert mit beeindruckend präziser Koordination, dann aber auch mit klangfarblicher Opulenz. 

Köln: „Connection impossible“ von Ondřej Adámek
Scheiternde Kommunikation? Nicht mit den Frankfurtern!

Ondřej Adámek, dessen dystopische Oper „Ines“ vor kurzem an der Kölner Oper aufgeführt wurde, fürchtet um die Dialogfähigkeit in unserer Zeit. Hören wir zu? Reden wir aneinander vorbei? Ist da überhaupt noch jemand am anderen Ende einer Leitung, die es nicht mehr gibt? „Connection impossible“ – konzertant am 9. Oktober in der Kölner Philharmonie nach der szenischen Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen – stellt zwei junge Frauen in den Mittelpunkt. Tara Khozein singt, Hanni Lorenz schauspielert, beide wirbeln über das Bühnenrund der Philharmonie in identischen Kostümen. Singen beim Einatmen, Sprechen beim Ausatmen und nicht selten verdoppeln sich die Stimmen elektronisch. „We have lost our humanity!“ Die Armen. Man stellte sich ja gerne auf das Ich der Protagonistinnen ein, doch niemand versteht, was sie wollen. Adámek dirigiert selbst. Jedes der 15 Kapitel kommt mit einem Minimum an kompositorischem Einfall aus, aber immer ist es der Puls, aus dem der Prager Komponist Energie gewinnt. Die Übergänge zum Pop verfließen. Was den Abend zum Ereignis macht, ist die Connection zwischen Solistinnen, Dirigent, Musikerinnen und Musikern: Adámek hat schon im Entstehungsprozess des Werkes das Ensemble Modern einbezogen und dafür gesorgt, dass die Frankfurter ihre kreativen Kräfte entfalten können. Da spielen die Streicher auch mal Blasinstrumente, gesungen wird allenthalben, Pianist Hermann Kretschmar irrt einschuhig über die Bühne, Bratschistin Megumi Kasakawa singt ein berückendes japanisches Lied. Diese Produktion kann dem legendären „Schwarz auf Weiß“ zur Seite gestellt werden, das Heiner Goebbels 1996 mit dem Ensemble Modern erarbeitete. 

Düsseldorf: Konzert für die Menschlichkeit
Gut gemeint, nicht gut gemacht

Ein Benefizkonzert des Deutschen Roten Kreuzes zugunsten der humanitären Hilfe für die Ukraine muss außerhalb jeder Kritik stehen. Auf der Bühne der Düsseldorfer Tonhalle sitzt am 1. Oktober das Symphonieorchester aus Kiew, das sich auf Auslandstournee befand, als Putins Armee vor zweieinhalb Jahren die Ukraine überfiel. Das Orchester kehrte nicht mehr zurück. Inzwischen haben Bürgermeister Daniel Zimmermann und Martin Witkowski, Intendant und Geschäftsführer der Monheimer Kulturwerke, das Orchester eingeladen, sich für die kommenden drei Jahre in Monheim am Rhein niederzulassen. Eine mittelfristige Zukunftsperspektive und ein Bekenntnis zur Kultur. 

Das „Konzert für die Menschlichkeit“, moderiert von Tagesschausprecher Constantin Schreiber, fährt Rollando Villazón, Daniel Hope, Albrecht Mayer und Daniel Müller-Schott auf, es dirigiert Stephan Frucht. Aber es dauert dreieinhalb Stunden, von denen eine halbe auf das unsägliche Cellokonzert von Friedrich Gulda mit seiner krachledernen Lustigkeit und seinen öden Wiederholungen entfällt. Greinendes Heranschmeißen an das freundliche Publikum war den Programmplanern wichtiger, als es mit ukrainischer Musik bekannt zu machen, sieht man einmal von der kurzen „Melody“ von Myroslav Skoryk ab, den Daniel Hope mit den Kiewern spielt (und der im Programmheft fehlerhaft geschrieben ist). Am ernsthaftesten scheint die elfjährige Charlotte Melkonian, die ihrem Cello rund und stark klingende Gesänge entlockt und der ich eine erfolgreiche Laufbahn wünsche, in der auch in Benefizkonzerten ambitioniert programmiert wird.