„Holt mein Gewehr!“ sagt der Vater am Beginn zu seinen beiden Söhnen, denn er will einen streunenden Hund erschießen; die Mutter hat Mitleid, die jüngste Tochter Lisa will sogar einen verkleideten Menschen in ihm entdecken und so entkommt der Hund. Am Schluss sagt der Vater wiederum diesen Satz und diesmal schießt er – und trifft. Zwischen diesen beiden Polen spannt sich die Oper „Dog Days (Tage des Hundes)“ aus, komponiert vom Amerikaner David T. Little, erst 2012 als Projektproduktion in New York erfolgreich uraufgeführt; die „New York Times“ hatte ihr die Potenz zum „bahnbrechenden amerikanischen Klassiker“ bescheinigt.
Jetzt hatte sie, nur zwei Wochen nach der europäischen Erstaufführung in Bielefeld, im E-Werk, der Kammerspielstätte des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin ihre auch hier gefeierte Premiere – ein starkes Stück und eine runde Sache.
Sie erzählt ein beklemmendes Endzeitspiel (Libretto von Royce Vavrek nach einer Kurzgeschichte von Judy Budnitz), in dem die soziale Ikone unserer vereinzelnden Zeit, die Familie auf den Prüfstand gestellt wird. Sie wird – gleichsam in einer experimentellen Laborsituation – in extreme Bedingungen gesetzt, in die postapokalytische Situation nach einem globalen Krieg: die menschliche und die natürliche Welt sind zerstört (selbst die Insekten sind gestorben), die Institutionen zerbrochen, die Versorgungseinrichtungen blockiert und die den Einzelnen haltende soziale Infrastruktur ist ausgelöscht. Die Familie, auf sich allein gestellt, versucht, ihren Mythos als garantierten Hort sozialer Geborgenheit aufrecht zu halten, scheitert zunehmend und zerfällt, denn sie können nicht einmal mehr ihre kreatürlichen Bedürfnisse befriedigen.
In der Form des Hungers schleicht der Untergang heran, von der Mutter, ohne ihre Sorge zu vernachlässigen, deutlich gewusst, vom Vater in seiner leer gewordenen Rolle als patriarchalischer Beschützer und Versorger blind geleugnet, von den beiden Söhne, faule und ziel- und interesselose Lümmel, im beständigen Kiffen zu sexuellen Machtphantasie verdrängt (die sie in dieser Inszenierung dann auch brutal befriedigen) – und wir fragen uns unentwegt gespannt, wie dieser Untergang sich vollziehen wird.
Nur Lisa projiziert ihre solidarischen Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung auf den Hund. Denn sie hatte Recht: Er ist ein Mensch (hier sogar eine Frau), der, um in solcher Zeit zu überleben, gleich auf sein Menschsein verzichtet und sich als Hund verkleidet hat – und auch die anderen merken dies bald, bleiben aber kalt und beunruhigt.
Synthese einer eigenständigen Klangsprache
Zu einem eindrucksstarken eingreifenden Musikdrama von energischer Sprengkraft wird dies zugleich durch Littles Musik, die sich zwar bei den marktüblichen Stilen von Klassik bis Pop und Rock, ja bis Heavy Metal bedient, aber dies zur Synthese einer eigenständigen Klangsprache führt: wild und kantig, aber auch mit kantablen Linien und wehmütiger Poesie. Aber nicht nach dem Muster „Eine Prise von diesem und eine Prise von jenem“, sondern die unterschiedlichen Stile amalgamieren sich hier aneinander. Was sich auch daran zeigt, dass die Rock- und Heavy-Metal-Effekte hier nicht nur als zusätzliche Würzen einer brav gewordenen Klassik funktionieren. Ihre rhythmische und klangliche Gewalt gewinnt ihre ursprüngliche, im kommerzialisierten Amüsierbetrieb längst verkommende Gestik des sozialen Protestes zurück, wie die traditionellen klassischen Idiome eine neue Lebenskraft dadurch gewinnen.
Die kleine Instrumentalgruppe – gleichfalls gemischt aus Klassik (vier verschiedene Streicher, Klarinette und Klavier) und Rock (Schlagwerk und E-Gitarre) spielt dies unter Martin Schelhaas in faszinierenden Klangmixturen, von sphärisch-magischen bis zu drohenden geräuschhaften Effekten. Zudem wird jede der instrumentalen und vokalen Stimmen elektronisch verstärkt, was akustisch gar nicht nötig wäre, aber Partiturvorschrift ist und dem Sound kühle Fremdheit gibt.
Die spiel- und experimentierfreudigen Sängerdarsteller des Schweriner Ensembles – Katrin Hübner als lyrisch-expressive Lisa, Itziar Lesaka als sorgliche Mutter, Markus Vollberg als überforderter depressiver Vater, Raphael Pauß und Alexander Tremmel als Lümmelsöhne und Sophia Maeno als geheimnisvoller (und stummer) Hundemensch – gestalten die vokalen Partien, die alles bieten, was zu einer Oper gehört: weit ausgreifende reflektierende Arien, dramatisches Dialog-Parlando wie eindrucksvolle Ensemblesätze, in guter Sanglichkeit und fesselnder Intensität.
Herausfordernde symbolische Parabelhaftigkeit
Regisseur Cristiano Fioravanti hat dies – in gelungener Ausstattung von Alexandre Corazolla, gleichfalls balancierend zwischen Naturalismus und karg-abstrakter Zeichenhaftigkeit – in jedem Moment überzeugend und auch psychologisch stringent in Szene gesetzt, auf dem vom Libretto vorgegebenen Weg von scheinbar äußerlicher Wirklichkeitstreue zu herausfordernder symbolischer Parabelhaftigkeit (Da drängt sich die heimliche Parallele zu Kafkas „Verwandlung“ auf : In beiden Fällen lässt, wenn auch in unterschiedlicher Weise, ein zum Tier verwandelter Mensch die familiale Solidaritätsstruktur implodieren.)
So hat diese Oper tatsächlich die bahnbrechende Qualität eines zeitgemäßen modernen Musikdramas: in einer existenziellen Fragestellung den unverstellten sozialkritischen Biss und auch den (für eine Oper) notwendigen Schuss an Künstlichkeit und Geheimnis. Und Fiovaranti nutzt dies für eine Reihe in ihrer Eindringlichkeit geradezu irritierende Szenen, etwa die Todes-Arie der Mutter, oder die beiden emotional expressiven Arien der Lisa, ihre Ansprache an den Hund oder ihre Spiegel-Arie, in der sie erfreut erkennt, dass der Hunger ihr die ersehnte Model-Schönheit gebracht hat, wenngleich sie ihre Natürlichkeit dabei verloren hat. Oder jene erschütternde Szene, in der der Vater mit vorgehaltenem Gewehr den Hund zwingen will, sich als Mensch zu enttarnen, weil er die Kostümierung als nicht hinnehmbare Kapitulation ansieht – was nur seine blinde Ahnungslosigkeit zeigt. Oder der Trick der Regie, den irgendwann auftretenden dickbäuchigen Soldaten, als Restbestand nicht mehr funktionierender Ordnungsmächte, als ironisch-parodistische Kostümierung der Hundefrau darzustellen, die im Mezzosopran (!) heuchlerisch eine glänzende Zukunft verspricht (Der Bauch verweist dabei in schöner Doppeldeutigkeit zugleich auf eine Schwangerschaft der Hundefrau, verursacht durch den Missbrauch der Söhne – woraus der Regisseur den Keim gewinnt für seine hoffnungsgläubige Überformung des ursprünglich hoffnungslosen Schlusses).
Für den Eintritt der endgültigen Katastrophe haben Fiovaranti und Corazolla eine schockierende bildkräftige Lösung gefunden – schlagartig versinken Welt und Familie nur noch im eigenen Müll. In der verzweifelten Gewissheit des tödlichen Hungers erinnert man sich daran, dass in China Hunde gegessen werden. „Holt mein Gewehr!“, sagt der Vater wiederum. Die zu Tieren in Menschengestalt gewordenen Männer töten nun den Menschen in Tiergestalt, um ihre biologische Fortexistenz zu sichern.
Und es erhebt sich krass die Frage: Unter welchen Bedingungen reißt der Firniss der Menschlichkeit? Hier ist dieser Firniss vollends gerissen. Und auch die hochherzige Zukunftsgläubigkeit des von der Regie elaborierten Endes vermag ihn nicht zu kitten – denn der rein instrumentale Epilog schleicht in bedrohlich zitternder Klanglichkeit unaufhaltsam zum unerbittlichen Inferno.