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v.l.n.r. AJ Glueckert (Alwa), Brenda Rae (Lulu), Claudia Mahnke (Gräfin Geschwitz) und Alfred Reiter (Schigolch). Foto: Barbara Aumüller

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Bedrückende Gesellschaftsanalyse – Nadja Loschky realisiert in Frankfurt Alban Bergs „Lulu“

Vorspann / Teaser

Hier niedergeschriebene Femizid-Zahlen wären beim Lesen dieser Zeilen schon wieder überholt. Trotz wiederholten Petitionen tut die offizielle Politik bislang zu wenig – und durch alle wohlmeinenden und erst recht wohltönenden Äußerungen schimmert viel maskuline Heuchelei hindurch. Mehr als nötig, dass die Kunst da Stellung bezieht und entlarvt. Das taten Frank Wedekind, Karl Kraus, Alban Berg – und jetzt die Oper Frankfurt.

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Diese früh missbrauchte, dann berechnend liebende und schließlich abgründig endende Kind-Weib-Vamp-Hure Lulu in den Interpretationshänden einer Frau heute – das las sich schon bei der Ankündigung reizvoll. Denn Bielefelds Opernchefin Nadja Loschky hat schon in ihrer Frankfurter Entlarvung von Händels „Giulio Cesare“ (nmz online vom 25.03.2024) als fatal tödliches Zusammenspiel von Eros, Sex und Macht ihr theatralisch expressives und visuell unvergessliches Können gezeigt.

Für die leider unverändert aktuellen Strukturen, die das Trio Wedekind-Kraus-Berg vor rund hundert Jahren offenlegte, hat ihr Bühnenbildnerin Katharina Schlipf eine Art hellbeigen Versuchsraum gebaut. Zwar gibt es vorne links und rechts Seitentüren, doch ein bühnenhohes Halbrund verschließt einen kreisrunden Hauptraum. Dort baut die perfekt geräuschlos funktionierende Bühnentechnik mit überlegt wenigen, aber klar charakterisierenden Möbeln und Raumassessoires die schnell wechselnden „Stationen“ der analytischen „Vorführung“ auf. Dazu kreist noch ein zweites, kleineres Raumteil und vermehrt so die wechselnden Einblicke. Es sind Blicke auf einen gestrig-heutigen Kostüm-Querschnitt durch die Gesellschaft von Irina Sprenkelmeyer. 

Und dann haben die konzeptionell mitarbeitenden Dramaturginnen Yvonne Gebauer und Mareike Wink mit Regisseurin Loschky die Aussage verschärft: Schon zum Prolog zieht der Athlet aus dem sich in der Raummitte öffnenden Schacht und dem ekelig schwarz-braunen Kloakenschlamm ein entsprechend verdrecktes weibliches Geschöpf empor. Es ist die hinzuerfundene „Anima“, das Alter Ego Lulus, das sie von nun an begleitet – was Tänzerin Evie Posaros ohne eitle Ballett-Attitüde, vielmehr hochexpressiv und dennoch schattenhaft gestaltete. 

Zwei Höhepunkte prägten sich ein: als Dr. Schön erkennt, dass er Lulu nach dem Selbstmord des Malers nicht entkommt, umgreift ihn Anima wie eine Spinne im Nacken sitzend; als Lulu im Kätzchen-Kostüm vor einem vergrößerten Schminkspiegel der Kabarettgarderobe glamourös-eitel-keck posiert und Schön seinen Entlobungsbrief diktiert, wird der Spiegel halbdurchsichtig und hinter Lulu steht dunkel Anima. Die Anima-Erfindung ist konsequent zu Ende gestaltet: im Londoner Schlussbild, zu dem im Versuchsraum alle jetzt abgenutzt-verdreckten Möbel „eines Lebens“ zu einer horrenden Müllhalde aufgetürmt sind, werden Lulu und Anima im gleichfalls verdreckten Babydoll-Hemdchen immer ununterscheidbar ähnlicher – und die Tote wieder in die Kanalisation versenkt. Das legt nahe „Einmal Gosse – immer Gosse“ – oder „Gesellschaftlicher Milieuwechsel ist nicht möglich“ – ein mehr als bitteres Finale… langes Schweigen im total dunklen Theater – und dann erst einhelliger Jubel.

Darin ging unter, dass Regisseurin Loschky die bis zur neuen Pause, zu den tödlichen Schüssen Lulus auf Dr. Schön erreichte, temporeiche Dichte verlorenging. Der 3. Akt zog sich hin; der rasche Figurenwechsel verlor an Profil; warum der Gymnasiast dann mit einem großen Totenkopf durch die Szene geisterte, erschloss sich nicht - bis endlich der trotz Kloaken-Dreck kenntliche Schön als Jack The Ripper kam; dass er – wie einst Dr. Schön Lulu die Pistole – jetzt ihr das Messer reicht und sie dann erst im Gerangel tötet, ist zwar ein Einfall, aber nicht recht überzeugend wie eben auch zuvor die Paris-London-Bilder. 

Dafür blieb der musikdramatische Spannungsbogen ungebrochen. GMD Thomas Guggeis und das Opern- und Museumsorchester machten den Anspielungs- und Formenreichtum von Bergs Partitur hörbar. Es gab die zwölftönerische Sperrigkeit und herausfordernde, ja distanzierende Schroffheit der Klänge – und dann blühte das große Sehnsuchts-Liebes-Thema oft traumschön schwelgerisch und dann geradezu schmerzlich als Kontrast auf. Zwölf exquisite Solisten verdienten ein Einzellob – das jetzt stellvertretend an Alfred Reiters Schigolch geht: Ein vokal treffend düsterer, szenisch ein geradezu bedrängend-bedrückender „Wiedergänger“ im Stadtstreicher-Look, einer, der alles überlebt … Ihm in Phasen ähnelte Simon Neals Dr. Schön als baritonal glänzender Gesellschaftslöwe und dann doch von seiner Sexualität Zerrissener. Brenda Rea war mit ihrer bestechenden Bühnenerscheinung im Dreck-Hemdchen, weißem Negligé, Kätzchen-Kostüm oder in Pailletten-Robe ohne Zutun ein erotischer Mittelpunkt – und anfangs stimmlich zu zurückhaltend, dann aber in Kontur, zunehmender Verzweiflung und schließlich vokaler Klage zurecht das Zentrum des Abends. Die anschließende Verleihung der Urkunden zum „Opernhaus …“, „Orchester …“ und „Chor des Jahres 2024“ verlieh der Frankfurter Oper über die insgesamt eindringliche Aufführung hinaus hoffentlich die Abwehr-Strahlkraft gegen die zu befürchtenden „Kürzungen im Kunst-Etat“, die auch „Mainhattan“ trotz aller protzenden Banken-Türme drohen.

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