Neben Traditionsstätten wie Donau-eschingen oder Witten, an denen Neue Musik alljährlich einmal in konzentrierter Form präsentiert wird, sind kontinuierlich sich über die jeweilige Saison erstreckende Veranstaltungen mit der zeitgenössischen Musik vielleicht noch wichtiger, weil hierbei auch ein interessiertes „Normal“-Musikpublikum erfährt, was sich bei der Avantgarde so tut. Die Münchner Musica Viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks wirkt in dieser Hinsicht vorbildhaft. Aber auch der Westdeutsche Rundfunk informiert mit seinen „Musik-der-Zeit“-Konzerten regelmäßig über aktuelle Tendenzen in der Neuen Musik, wobei es dem zuständigen Redakteur Harry Vogt immer wieder gelingt, durch thematische Zielvorgaben perspektivisch interessante Programme zu konzpieren: das letzte trug den Titel „Rausch und Ratio“. Ein Spannungspaar, das nicht nur passive Hörer, sondern auch das Komponieren selbst betrifft.
Wie wirkt Musik? „Der Laie fühle bei Musik am meisten, der gebildete Künstler am wenigsten“ – das behauptete einmal der Musikkritiker Eduard Hanslick. Der Dirigent Christian Thielemann aber dirigiert, vorübergehend, nicht mehr „Tristan und Isolde“: Wagners Musikdrama nehme ihn jedesmal emotional so sehr mit, daß längere Erschöpfungszustände die Folge seien. Ist Thielemann vielleicht im Sinne Hanslicks nicht „gebildet“? Kaum zu glauben. Auch „Tristan“ basiert auf festgelegten Notierungen, auf formalen Verläufen, auf kalkulierten dramatischen Wirkungen, ein rationales Element ist selbst dem „entfesseltsten“ Musik-Kunstwerk gleichsam als strukturelle Grundierung eingezogen: Musik - ausgespannt zwischen „Rausch und Ratio“. So lautete denn auch der Titel des letzten Musik-der-Zeit-Wochenendes des Westdeutschen Rundfunks, das sich die Aufgabe stellte, die Beziehungen zwischen den beiden Begriffen anhand ausgewählter Werke, darunter zahlreiche Uraufführungen, genauer zu untersuchen. Von „Tristan und Isolde“ war dabei höchstens am Rande die Rede, dafür um so mehr vom späten Beethoven. Dessen letzte Klaviersonaten und Streichquartette scheinen in ihrer konstruktiven Komplexität und expansiven Ausdrucksgewalt immer wieder eine Art Musiksteinbruch zu sein, mit dessen Hilfe heutige Komponisten versuchen, eigene Positionen zu bestimmen. Dass dabei das Original oft moderner erscheint als die Adaption, liegt in der Natur der Sache: Nur wenn ein heutiger Komponist hinreichende eigene Substanz besitzt, kann diese Aneignung produktiv werden.
Das ist zum Beispiel bei Wolfgang Rihms 1977 geschriebener „Musik für drei Streicher“ der Fall. Rihm greift den expressiven Gestus Beethovens auf, integriert Beethoven-Partikel in die eigene Tonsprache, deren ungebärdig nach vorn drängende Energie durch den Rückgriff auf klassische Formmodelle (das Streichtrio, die Dreisätzigkeit) gebändigt wird – was dem Werk eine unerhörte Innenspannung verleiht. Dem Trio Recherche mit Melise Mellinger (Violine), Barbara Maurer (Viola) und Åsa Åkerberg (Violoncello) gelang eine schlechthin überwältigende Interpretation. Von gleicher Qualität war die Wiedergabe von Arnold Schönbergs Streichtrio op. 45 von 1946, entstanden nach einer schweren Krankheit: Heftige Gesten und zarteste Klänge verbinden sich beim Trio Recherche mit einer frei geknüpften formalen Gestaltung. Von dieser Spannung zwischen Konstruktion und emotionaler Freiheit zeugen auch Luigi Nonos „Varianti“ (mit der brillanten Geigerin Carolin Widmann) oder Helmut Lachenmanns Orchesterwerk „Tableau“ (1988/89) – alles Kompositionen, die zum Thema „Rausch und Ratio“ gewichtiges Anschauungs(-hörungs) material bieten, auch wenn sie schon älteren Datums sind. Die Uraufführungen gerieten unterschiedlich. Jorge E. López zerlegt Beethovens letzte Klavier-Bagatellen op. 126 für sein fünfteiliges Orchesterstück „Disparates“, die heftigen klanglichen Gebärden wirken mitunter aber leicht schematisch. Manuel Hidalgo nahm sich die Introduktion und Fuge aus Beethovens „Hammerklavier“-Sonate op. 106 vor und übertrug sie ambitioniert, aber im Ergebnis eindimensional für Orchester und Akkordeon. Da überzeugte Nicolaus A. Hubers Orchesterwerk „Weiße Radierung“ mit seinen schnellen Ausdruckswechseln und der spielerischen Fast-Equilibristik schon mehr. Auch Emilio Pomàricos „Trio per Archi“ findet höchst plastische individuelle Klangbilder zwischen Konstruktion und einer fast schon verdächtigen emotionalen Schönheit. Leicht, phantasievoll und kurzweilig huschen York Höllers „Fluchtpunkte“ dahin: orchestrale Bewegungen, die immer wieder abbrechen, als breche ein Fliehender immer wieder nieder, und Isabel Mundrys Ensemblestück „Sandschleifen“ demonstriert einmal mehr die Begabung der Komponistin, assoziativ aus textlichen und bildlichen Vorlagen eine autonome kompositorische Struktur zu entwickeln.
Bei den „Musik-der-Zeit“-Konzerten gibt es stets das hohe interpretatorische Niveau zu bewundern. Carolin Widmann wurde schon genannt, sie spielt auch noch mit dem Pianisten Simon Lepper das vertrackte Duo-Stück „Dikhthas“ von Iannis Xenakis: Energien, aus Konstruktion gewonnen - ein faszinierender Vorgang. In Arnulf Herrmanns „Privatsammlung“ (2006) präsentiert sich die Amerikanerin Heather O‘Donnell als souveräne Pianistin, ebenso wie in Bernhard Langs „DW 12 - Cellular Automata“ von 2003. Der romantische Gefühlskosmos wird in seine Bestandteile zerlegt, der Rausch von gestern muß sich der Ratio von heute beugen. Gleichwohl ergibt das eine Musik, die auch emotionale Qualitäten gewinnt. Daran ist aber auch eine virtuose Interpretation beteiligt. In die komponierten Gespräche zwischen Rausch und Ratio brachte sich auch noch Mathias Spahlinger mit seinem 1995 geschriebenen Stück „gegen unendlich“ (für Baßklarinette, Posaune, Violoncello und Klavier) ein: ein komplex erdachtes und ausgeführtes Werk, das außerhalb des tonalen Bezugssystems mit „komponierten und unkomponierbaren Abweichungen“ (Spahlinger) operiert. Was man vielleicht als zu konstruiert vermuten könnte, ergibt beim Hören gleichsam genau das Gegenteil: das Stück gewinnt eine fast schwebende, kühle Sinnlichkeit. Musik von einer hohen Bewußtheit. Die Neue Musik bemüht sich immer häufiger um ein junges Publikum, nicht nur, weil sie an den interessierten Zuhörer von morgen denkt, sie begreift vielmehr ihre Arbeit auch als Bildungsauftrag. Das ist umso wichtiger, weil Elternhaus und Schule heutzutage immer weniger musikalische Bildung, eigene musische Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen fördern. In Köln gab es dazu einenvielversprechenden, wenn auch noch nicht gänzlich gelungenen Beitrag. „Interaktion“ nannten die Geigerin Carolin Widmann und, als Moderator, Bernhard König ihr „Familienkonzert“, an dem viele Kinder samt erwachsener Begleitung teilnahmen. Carolin Widmann führte vor, was man auf einer Violione alles ausdrücken kann: Lachen, Weinen, Schreien und vor allem Singen. Durch Bernhard König wurden die jungen Gäste aktiv in das Geschehen einbezogen. Sie konnten Geräusche erzeugen, Tempi und Lautstärken bestimmen, mit Körperaktionen rhythmisches Empfinden trainieren. Carolin Widman spielte danach noch ausgesuchte Stücke von Bach, Bartók, Sciarrino und Ysaye (natürlich nicht komplett), an denen sich emotionale Bandbreiten von Musik ablesen ließen. Das war für die Einsicht kleinerer Kinder sicher noch zu schwierig. Carolin Widmann und Bernhard König möchten das Projekt weiterentwi ckeln. Dass eine schon berühmte junge Geigerin, neben ihren weltweiten Verpflichtungen, sich die Zeit für derartige Unternehmungen nimmt, verdient hohes Lob.