Des Intendanten Kalkül ist aufgegangen: Zu Beginn des Jubeljahres ein Stück mit Beethoven-Bezug, noch dazu das Rätsel um die „Unsterbliche Geliebte“ aufnehmend – das garantiert überregionale Aufmerksamkeit.
Der estnische Komponist Jüri Reinvere hat seiner Oper „Minona“ eine durchaus nachdenkenswerte Frage zugrunde gelegt: Was macht es mit einer Frau, wenn sie davon ausgehen muss, die uneheliche Tochter Beethovens zu sein? Minona von Stackelberg ist diese Frau, und einiges spricht dafür, dass ihre Mutter, geborene Josephine Brunsvik, jene „Unsterbliche Geliebte“ war, der Beethovens berühmter Brief galt. Die These, von der Reinvere ausgeht (unter anderem gestützt auf Harry Goldschmidts und eigene Forschungen): Josephine kehrte nach einer Prager Liebesnacht mit Beethoven schnell zu ihrem Gatten, dem estnischen Baron Christoph von Stackelberg zurück, um die neun Monate später geborene Tochter als seine ausgeben zu können.
Das Libretto, das Reinvere selbst verfasst hat, ist in drei Stationen gegliedert: 1812 entscheidet sich Josephine nach der Liebesnacht für die Rückkehr zu ihrem Mann; 1828 leidet die junge Minona in Reval unter der brutalen Strenge des Pietisten Stackelberg; 1870 – man feiert Beethovens 100. Geburtstag – versucht Minona anhand aufgefundener Briefe ihrer Mutter und in imaginärer Zwiesprache mit Leonore aus dem „Fidelio“ ihre Lebensgeschichte zu verarbeiten. Dieser Ausgangslage ringt Reinvere durchaus einige poetisch-suggestive Textpassagen ab. Das Potenzial, zwei interessante Frauenfiguren auf die Bühne zu bringen – eine, von der man einiges weiß, und eine, über die man trefflich spekulieren kann – ist durchaus erkennbar.
Leider lesen sich Reinveres Interviews und Kommentare hierzu aber weitaus interessanter als seine Musik sich anhört. Dem ersten Akt unterlegt Reinvere praktisch durchgehend nichts anderes als einen mal tremolierend angerauten, mal flächig mäandernden Klangteppich in mäßig origineller Freitonalität. Der Gesang kann sich darüber textverständlich in ziemlich beliebigen Linien verströmen. Nach der Pause erhöht sich die harmonische Geschwindigkeit ein wenig und aus dem Orchester wuselt neben Tonleiterausschnitten auch mal annähernd Motivisches (der möglicherweise als solcher zu verstehende „Jo-se-phi-ne“-Rhythmus aus Beethoven Andante favori WoO 57 ist ab und an zu erahnen). Ein wenig aufhorchen lässt dann aber doch nur das einzige echte Zitat: Das Fidelio-Quartett „Mir ist so wunderbar“ wird notengetreu über Haltenoten gesungen. So einfach kann man es sich bei der Zwiesprache mit einem Titanen also auch machen: Beethoven mal kurz in den Rachen greifen und schnell wieder zurückziehen.
Regisseur Hendrik Müller müht sich gehörig, das Ganze aufzupeppen: Vor allem schließt er Minonas Vater-Obsession mit dem fragwürdigen Beethoven-Kult Elly Neys kurz. Nicht nur Ausschnitte aus ihren verquasten Texten (von 1942) werden verlesen, die alte Minona selbst trägt Züge der Pianistin, die ihre Kunst in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie stellte. Bei Müller verfällt Minona dem Wahnsinn, entsprechend dominiert den drehbaren, vor dem Hintergrund eines großen Opernhaus-Panoramas postierten Bühnenaufbau (Marc Weeger) ein Käfig, in dem sie weggesperrt wird. Darüber thront eine Orgel, an der mal Minona, mal Wiedergänger Bachs und Händels (unhörbar) hantieren dürfen. Weitere Komponisten-Heroen von Haydn über Schubert und Chopin bis Liszt und Wagner versammeln sich mitunter zur Beethoven-Soirée am Flügel.
Das sängerische Niveau des Abends ist erfreulich: Theodora Varga (die alte Minona) und Anna Pisareva (als Josephine und junge Minona) gelingt es, ihren Figuren durch differenziert-intensive Vokalgestaltung Leben einzuhauchen. Das Philharmonische Orchester spielt unter GMD Chin-Chao Lin sängerfreundlich zurückhaltend und gibt beim immerhin effektvollen Dauercrescendo zu Beginn des letzten Bildes ordentlich Gas. Das Beethoven-Jahr ist eröffnet, es ist noch viel Luft nach oben.