Das Spiel mit den Formen birgt seit jeher kreatives Potenzial, wenn es darum geht, musikalische Vorstellungen dramaturgisch darzustellen. Dabei werden häufig, bewusst oder unbewusst, Grenzüberschreitungen in Kauf genommen, um Neues auszuprobieren. Dass Gattungsbegriffe vor allem auf dem Gebiet der Musik eher akademischer Natur sind, weiß jeder, dem die Freude am Erleben kreativer Gestaltungsprozesse noch nicht abhan-den gekommen ist.
So ist es also nicht nur legitim, sondern zeugt von neugierigem Ausprobieren, wenn auch in Münchnen ein Händel’sches Oratorium auf der O-pernbühne realisiert wird. Christof Loy, Folkwang-Schüler und ehemals Assistent von Luc Bondy, stellt sich erfolgreich der Herausforderung, die in der dramaturgischen Diskontinuität dieses Oratoriums liegt und versteht es, den ständigen Wechsel der Zeiten und Orte in moderne Chiffren einer allgegenwärtigen Zerissenheit zu verwandeln. Daneben befreit er die Protagonisten von jeglicher barocker Formenstrenge und zeigt sie als Menschen des 21. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen drei Männer, die auf
unterschiedliche Art und Weise aneinander gekettet sind: hier König Saul, der den jungen, erfolgreichen Goliath-Bezwinger an seinen Hof binden möchte; da Jonathan, Sauls Sohn, der mit seiner Freundschaft zu David den konventionellen Anstandsregeln seiner Umgebung entkommen möchte. Und im Zentrum des Geschehens, fast wie im Auge des Taifuns, David. Sein Charakter ist zwiespältig und unausgegoren; ein Mensch, der es sich mit niemandem verderben will und doch merkt, dass er sich, je weiter das Geschehen voranschreitet, entscheiden muss zwischen Macht und Loyalität. Die Entwicklung der handelnden Personen geht einher mit einer zunehmenden Dramatisierung des Bühnengeschehens. Zu Beginn des Oratoriums finden sich Chor und Sänger auf der von Herbert Murauer (Bühne und Kostüme) im streng weißen Klassizismus gehaltenen und mit Stuhlreihen bestückten Bühne ein; wie in einem Konzert singt man von mitgebrachten Noten. Statisch und nahezu unbeweglich beginnt der Verlauf des Abends. Erst allmählich treten die einzelnen Figuren aus ihren angestammten Oratorien-Rollen und entwickeln eine intensiv theatralische Operngestik: Die Stühle fliegen von der Bühne.
Was in den ersten Akten crescendohaft aufgebaut wird, steigert sich im dritten zum beklemmenden Höhepunkt: Zweimal hat Saul versucht seinen Nebenbuhler David loszuwerden, zweimal ist es Jonathan gelungen, seinen Freund vor seinem Vater zu schützen; doch letztlich entzieht sich David allen Vereinnahmungen: Sowohl Saul als auch Jonathan müssen sterben, und erst jetzt, nach deren Tod, wird sich David seiner selbst und seines großen Verlustes bewusst, den er in der großen Abschiedsarie „Elegy on the death of Saul and Jonathan“ beweint. Der David des jungen Amerikaners David Daniels ist der ungekrönte König des Abends. Daniels, der in München bereits als Nerone in Monterverdis „L’incoronazione di Poppea“ und in Händels „Rinaldo“ große Erfolg feierte, beglückt nicht nur durch seinen glockenreinen Altus; vielmehr gelingt es ihm auch, die dunkle und menschliche Seite seiner Partie mit großer Intensität zu verkörpern. Ebenbürtig an seiner Seite agieren Alastair Miles (Saul), John Mark Ainsley (Jonathan), Rebecca Evans (Merab) und Rosemary Joshua (Michal). Mit Ivor Bolton am Pult erweist sich das Bayerische Staatsorchester einmal mehr als ein Klangkörper, der einen idealen Mittelweg zwischen historischer Aufführungspraxis und Anforderungen einer großen Opernbühne souverän beschreitet. Glänzend disponiert auch der Chor unter der fachkundigen Leitung von Udo Mehrpol. Vier Stunden Händel ziehen an den Münchnern wie im Flug vorüber; der Abend endet mit großen Ovationen und macht Appetit auf mehr.