Zum tiefen Dräuen aus dem Aachener Orchestergraben, in dem Kazem Abdullah mit energischen Händen dem Orchester die Wege durch eine hörbar ungewohnte Musiklandschaft weist, zeigt sich ein Karussellpferd auf der Bühne. Ein irgendwie typisches US-amerikanisches Paar des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts läuft im Kreis und kümmert sich ohne größere Anteilnahme um ein Kind. Dann wird es heller. „Welcome to Wyoming“ grüßt ein großes Plakat und signalisiert, dass die Story von der Rückblende in die Vorgeschichte – ein Kindheitsmuster – zur eigentlichen Handlung fortschreitet.
Bei Charles Wourinens „Brokeback Mountain“ handelt es sich um eine Literatur-Oper, die einen größeren Umweg zurücklegen musste, um nach Aachen zu gelangen. 1997 publizierte die Historikerin und Publizistin Annie Proulx, die punktuell auch „Feldforschung“ in der Tiefe der wildwestlichen Räume betreibt, im Magazin „The New Yorker“ eine Kurzgeschichte. Diese widmete sich dem harten, öden, rauen Leben in entlegenen Weilern und auf den einsamen Ranches, den Denk- und Sprechweisen von Viehzüchtern und Schafhirten in den Regionen am Oberlauf des Colorado und des Bighorn Rivers, zugleich dem Wertekanon der hartkonservativen Weißen, die hier funktionieren (und dies schließt eine vorwaltende Homophobie ein).
Der Text fand Aufnahme in den Sammelband „Close Range“ („Weit draußen“) und wurde zum Drehbuch promoviert. Ang Lee verfilmte die Erzählung – das Resultat wurde 2005 mit drei Oscars ausgezeichnet und fand wegen der sensiblen Behandlung des sporadischen Glücks und der Seelennöte von Jack Twist und Ennis del Mar internationalen Zuspruch: die beiden Schafhirten beginnen in der Einsamkeit ein Verhältnis, das sich fortsetzt, nachdem beide heirateten und Kinder in die Welt setzen halfen. Die beiden Burschen beschwören mit ihrer Verdruckstheit und dem sporadischen Doppelleben Konflikte für sich und ihre sozialen Umfelder herauf. Gérard Mortier ließ sich von Lees gefühlsintensivem Film inspirieren. Als der Kulturmanager im Anschluss an seine Tätigkeit als Direktor der Pariser Nationaloper zum Intendanten in New York bestellt wurde, orderte er bei Charles Wourinen, einem New Yorker Komponisten mit finnischen Wurzeln, eine Oper über das offensichtlich in manchen Milieus und Regionen fortdauernd virulente Sujet. Da Mortier die Stelle an der City Opera wg. deren Finanz- und Strukturschwäche dann aber nicht antrat, sondern als Intendant ans Teatro Real in Madrid ging, nahm er das Projekt dorthin mit. Kurz vor seinem Tod kam die Oper „Brokeback Mountains“ zur Uraufführung. Die erzielte, wie eine große Tageszeitung meldete, „pflichtschuldigen Applaus“. Mehr aber nicht: „Im liberalen Madrid vermochte ‚Brokeback Mountain’ als Musiktheater kein Herz zu rühren, kein Auge feucht werden zu lassen.“
In Aachen hat Ludger Engels nun dennoch versucht, aus dem nassen Schwamm Funken schlagen zu lassen. Er mochte dabei mehr das medialen Interesse am Film im Auge gehabt haben als die Musik Wourinens im Ohr. Die bedient keineswegs nur Patterns von hollywoodgeläufiger Filmmusik inklusive gelegentlich mitgespültem Wagner-Geröll, sondern sehr viel überwiegender Gesten des akademischen Komponierens, wie es in den 60er Jahren in Nord-, Mittel- und punktuelle auch Osteuropa gang und gäbe war. Diese Melange atmet nicht gerade den Geist eines ersten Frischegrades – die Zähigkeit, Redunanzen und akustische Mühsal des Tonsatzes kann auch das Engagement des Kapellmeisters Abdullah nicht ernsthaft aktualisieren oder gar beschönigen.
Mark Omvlee und Christian Tschelebiew legen sich kräftig ins Zeug, um die Männlichkeitsrituale der beiden Cowboys wie deren psychische Verletzlichkeit deutlich hervorzuheben. Aber da beide so verständnisvoll auch zu ihren Ehepartnerinnen zu sein haben, bleiben ihnen stimmlich wenig Möglichkeiten, größeres Konflikt- und Erwartungspotential des Musiktheaters auszuspielen. Auch die Anweisungen des Mr. Aguirre an die frisch eingestellten Hirten fürs Einhüten und die Lebensführung bleiben eine mäßig prickelnde Grundlage für elaborierten Gesang. Fast wie ein Komtur hingegen wirkt Hans Schaapkens mit dem Gesang des toten Vaters aus dem Off.
Die Ausstattung von Christin Vahl und Moritz Junge wirkt wie die Inszenierung von Engels in erster Linie pflichtschuldig. Sie gruppiert sich zunächst um eine aufs Fachwerkgerüst reduzierte Scheune, in der sich Jack und Ennis näher kommen. Deren Dach klappt in bildkräftiger Weise um, um das Modell einer verschneiten Berglandschaft als optischen Anziehungspunkt anzubieten. Später dreht sich ein teilweise offenes Häuschen – eines jener demonstrativ als Theaterkulisse errichten Kleinsteigenheime, die das spießige Leben vorführen helfen. Wahrscheinlich ist solcher deutscher Stadttheaterrealismus die angemessene Antwort auf die tristen US-amerikanischen Trivialitäten, die zwangsläufig Bestandteil der Textgrundlage zu sein haben. Bei ihr handelt es sich um Heimatkunst, die für einen Teil des internationalen Lesepublikums fortdauernd von Interesse ist. Im Zuge einer ausgeglichenen kulturellen Handelsbilanz sollten freilich nicht nur genuin nordamerikanische Produkte wie der Film und die Oper „Brokeback Mountain“ von West nach Ost über den Atlantik kommen, sondern – auch aus pädagogischen Gründen und spätestens nach Abschluss des Freihandelsabkommens – tunlichst Arbeiten der deutschen Regisseure Calixto Bieito oder Stefan Herheim bzw. der hierzulande so beliebten wie erfolgreichen Wanderarbeiter Warlikowski oder Castellucci in den mittleren Westen, nach Houston oder Los Angeles.
Der eigentlich tragische Held der Wourinen-Oper ist womöglich der Bundesstaat Wyoming. Aber so, wie das Gold für „Mahagonny“ leichter von Männern als von Flüssen zu bekommen ist, lässt sich jene „relevante Kunst“, die Gérard Mortier so emphatisch als vordringliche Aufgabe eines aktuellen Musiktheaters beschwor, wohl eher aus pointiert aufbereiteten menschlichen Konflikten gewinnen als aus den Fortschreibungen von Feldforschung im amerikanischen Hinterland. Deren gute Absichten waren auch in Aachen nicht zu verkennen. Doch die Brennpunkte fürs „Relevante“ liegen womöglich anderswo.