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Mark Andre im Gespräch mit Stefan Jena nach dem Konzert am 12. März im Musikverein Wien. Foto: Alexander Keuk.
Mark Andre im Gespräch mit Stefan Jena nach dem Konzert am 12. März im Musikverein Wien. Foto: Alexander Keuk.
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Beobachten, Untersuchen, Anschauen, Entfalten – Mark Andre ist „Komponist im Fokus“ beim Wiener Musikverein

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Residenzen bei Orchestern oder Konzerthäusern sind eigentlich ein Glücksfall für Komponistinnen und Komponisten, erhalten sie doch so nicht nur die Möglichkeit zur eigenen Präsentation und zur Schaffung neuer Werke, sondern auch den seltenen Fall von Wiederaufführungen oder Kontextualisierungen ihrer Musik. Damit dies alles gelingt, muss aber auch die Veranstalterseite mitspielen und sich letztlich auch ein interessiertes Publikum einfinden. Leider erlebt man auch  unbefriedigende Ereignisse eines lieblosen Abarbeitens der zeitgenössischen Musik in diesem Format, wenn die Stücke unkommentiert an die Ränder der Spielzeit geheftet werden und die Schöpfer der Werke nicht einmal persönlich präsent sind und somit auch eine Vermittlung nicht stattfindet. Im Wiener Musikverein weht dahingehend – zumindest in dem von mir besuchten Jahrgang – ein anderer Wind, und das ist angesichts der konservative Bedürfnisse eher befriedigenden Aura im Goldenen Saal sicher positiv zu vermerken.

In Wien ist der „Komponist im Fokus“ in dieser Spielzeit durch den deutsch-französischen Komponisten Mark Andre (*1964) vertreten. Ausgebildet wurde Andre in Paris bei Gerard Grisey und in Stuttgart bei Helmut Lachenmann – er lebt in Berlin, ist seit 1998 Dozent der Darmstädter Ferienkurse und hat in Dresden eine Kompositionsprofessur inne. Die Residenz am Musikverein in dieser Saison geschieht mehrfach in großen und kleinen Formen und Kooperationen, so bereits im November 2022 mit dem Festival Wien Modern. Am 18. Februar kam es zu einem weiteren Höhepunkt in einem Konzert des ORF-Radiosinfonieorchesters mit der Aufführung des Violinkonzertes „an“ aus dem Jahr 2014. Ilya Gringolts spielte den Solopart, Markus Poschner leitete die Aufführung einer Partitur, die eine unglaubliche Virtuosität der Stille demonstriert. Allein die Wirkung dieser hervorragenden Aufführung sollte eigentlich die zu dieser Zeit wiederaufflammende Auflösungsdiskussion über das Orchester obsolet machen, im Sinne eines Zitats von Peter Gülke: „Solange irgendwo ein Komponist Werke schafft, haben wir Orchester die absolute Pflicht, diese aufzuführen“.

Mark Andre wiederum hat offenbar auch eine goldene Hand dafür, ins Innere von Intensitäten und (bislang) verborgenen Räumlichkeiten der Musik behutsam einzudringen und uns Zuhörern tatsächlich das Hören wieder erlernbar, erlebbar zu machen. Denn absolut still und aufmerksam lauschte das Auditorium im ausverkauften Saal des Musikvereins den fragilen Verästelungen des Violinkonzerts, das der gläubige Protestant Andre wie fast alle seine Werke auf besondere Worte der Bibel bezieht: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. In den Präpositionen wohnen die Zwischenräume, der Schwellengesang, und manchmal auch ein fremdes Knistern.

Dass danach die 5. Sinfonie von Anton Bruckner ohrengespült modern klang und man jeder Pause im Stück entgegenfieberte hängt wohl mit der Sensibilisierung von Andre zusammen. Auch eine Uraufführung erklang jüngst: „Im Entschwinden“ wurde als Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und der Hamburger Elbphilharmonie vom Orchestre de Paris unter Klaus Mäkelä im Musikverein am 12. März aus der Taufe gehoben. Mark Andre bleibt sich hier treu, wenngleich nun die Präsenz, das schlichte „Dasein“ von Klängen und deren rhythmischer Gestaltung überraschenderweise viel deutlicher spürbar ist.

Diesmal ist die biblische Umgebung die Auferstehung, und Gustav Mahlers 2. Sinfonie erklingt neben Andre als planetenferner Kontext, und dennoch: das Nachbarwerk war Andre zur Zeit der Niederschrift bekannt, und was er im Gespräch nach dem Konzert bei Mahler beobachtet, ist nicht etwa die Klopstocksche Lichtgewalt, sondern bereits das Granulierende eines Tremolos, das ja gleich im ersten Ton der Sinfonie ein Erzittern erzeugt und den Apparat schon im Wanken betrachtet. Beobachten, Untersuchen, Anschauen, Entfalten – das sind kontinuierliche Prozesse und Positionen im Komponieren Mark Andres, und das mit weiteren Konzerten im März angereicherte Porträt machte das Publikum auch mit Solo- und Kammermusikwerken vertraut. „iv15 (Himmelfahrt)“, gespielt von Wolfgang Kogert, rückte die Orgel im Goldenen Saal in den Fokus und bescherte den Zuhörern tatsächlich eine fast drei Minuten währende Himmelfahrt eines Clusterklangs, als der Orgelmotor am Ende ausgeschaltet wurde – da hier jedes Instrument anders reagiert, ist jede Aufführung von „iv15“ ein besonderes Erlebnis. Schließlich gestalteten Studierende der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien einen Konzertabend, bei dem „Miniaturen für zwei Gitarren“ und „Drei Stücke für Ensemble“ von Andre in engagierter, frischer Lesart durch die jungen Musizierenden erklangen. Im Mai wird die Residenz fortgesetzt.

  • 6.5.23 Wien, Musikverein, Jörg Widmann, Mark Andre …selig sind… für Klarinette und Elektronik
  • 15.5.23 Wien, Musikverein, Ensemble Kontrapunkte, Mark Andre „riss 1“

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