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Berenike – Königin von Armenien, Stuttgarter Inszenierung. Foto: A.T. Schaefer
Berenike – Königin von Armenien, Stuttgarter Inszenierung. Foto: A.T. Schaefer
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Berenike und der Friseur – Jommellis „Vologeso” wird in Stuttgart, Paisiellos „Barbier” im Theater an der Wien präsentiert

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Unser Kritiker Frieder Reininghaus weist auf zwei Ausgrabungen aus der Operngeschichte hin. In Stuttgart gab es Niccolò Jommellis „Berenike, Königin von Armenien“ und im Theater an der Wien Giovanni Paisiellos „Barbier von Sevilla“. Ob es sich gelohnt hat und was das wirklich ausgegraben und wie inszeniert wurde, hier in der länderüberschreitenden Doppelkritik.

Zwei bemerkenswerte „Ausgrabungen“ sind anzuzeigen – Werke, die jeweils auch mehr oder weniger mit der Geschichte der Oper am Ort des Neuerscheinens zu tun haben: „Il Vologeso“ des 1753–69 in Stuttgart tätigen Kapellmeisters Niccolò Jommelli kam am Württembergischen Staatstheater in einer repräsentativen Produktion unter dem Titel „Berenike“ heraus. Die erste nachhaltig wirksame Komposition zum „Barbier von Sevilla“, des ersten Teils der einst bahnbrechenden Trilogie von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, wurde im Theater an der Wien als Premiere angeboten. Die hochkarätige Musik von Giovanni Paisiello erwies sich auch dort als theatral effizient und primär komödiantisch wirksam. Sie führte vor Ohren, wie sehr Mozart gerade auch maßgeblich an Baumarchais anknüpfenden Da Ponte-Opern auf den Schultern der Vorgänger stand.

Neuer Klangfarbenreichtum: Niccolò Jommellis „Berenike“ in Stuttgart

Jommellis zur Diskussion stehendes dramma per musica basiert auf einem Libretto Apostolo Zenos, das in vielerlei Varianten seit 1699 Dutzende Male in Musik gesetzt wurde: „Lucio Vero“, benannt nach der einzigen im Plot historisch belegbaren Figur. Es handelt sich um einen Mit- oder Nebenkaiser von Marc Aurel, der sich während seiner Feldzüge gegen die Parther Ruhm erwarb, aber offensichtlich auch vom römischen Sittencodex entfernte. Zenos Plott brachte freilich auch zahlreiche Opern hervor, die nach einer der anderen Hauptfiguren benannt wurden, zum Beispiel nach „Vologeso“, dem besiegten, aber auch in der Gefangenschaft noch um seine Verlobte Berenice kämpfenden Parther-König, nach „Lucilla“ (sie eifert und schmachtet als – nicht verbürgte – Tochter Marc Aurels und ursprüngliche Verlobte Lucios) oder eben „Berenice, regina d‘Armenia“. Zenos Libretto-Vorlage wurde von unbekannter Hand (M. Verazzi?) für die von Jommelli unter Mitwirkung seines Dienstherrn Carl Eugen geleitete Premiere im Herzoglichen Theater zu Ludwigsburg 1766 bearbeitet, das Produkt jetzt – nach der Usance des 18. Jahrhunderts – in „Berenike, Königin von Armenien“ umbenannt.

Die Instrumentalisten agieren halb erhoben, gegebenenfalls gut oder doch wenigstens hinreichend sichtbar im Rampenlicht. Gabriele Ferro hat eine mit hohem Engagement musizierte und weithin sehr ansprechend, mitunter exzellent gesungene Aufführung realisiert. Sie erscheint geeignet, eine nachhaltig wirksame Bresche für die neuerliche Anerkennung von Jommellis Musik zu schlagen. In der bestreiten die Streicher den dominanten Anteil. Ferro hat sie, um aufzulockern und für mannigfaltige Abwechslungen zu sorgen, in zwei Ripieno-Chöre und ein solistisch agierendes Streichquartett gruppiert. Die an die Usancen des Concerto grosso angelehnte Einteilung erscheint funktional plausibel und zeugt von Klangsensibilität und zugleich von geschärftem strukturellem Denken. Die diskrete Form der „Registrierung“ sorgt, auch in wohl austarierter Balance zu den Bläser-Einsätzen, für ein insgesamt anmutiges und außergewöhnlich lebendiges Klangbild, in dem die Trompeten dann noch besondere Farbtupfer setzen. Der 1937 in Pescara geborene Routinier der opera italiana trat in bemerkenswerter Weise aus der Routine heraus. Ferro leistete etwas Besonderes mit den Stuttgarter Musikern für deren schönes altes Theater.

Dabei konnte er sich auf ausführliche Vorarbeiten des ortsansässigen Dirigenten Frieder Bernius stützen. Der hatte vor zwei Jahrzehnten eine der zahlreichen Versionen von „Il Vologeso“, zu der sich eine zeitgenössische Partitur-Abschrift in der Württembergischen Landesbibliothek fand, per Computertranskription aufbereitet und auf CD eingespielt. Die Lesefehler und Ungenauigkeiten der Bernius-Version seien jetzt, so versichert Ferro, korrigiert und durch den Assistenten Alan Hamilton auch ein praktikabler Klavierauszug erarbeitet worden. Das Stuttgarter Premierenpublikum war also der Wiederannäherung an eine von mehreren (jeweils unter bestimmten örtlichen Bedingungen entstandenen) Fassungen konfrontiert, die Jommelli im Laufe seines wechselhaften Berufslebens kreierte. Von einem „Original“, dem sich gegebenenfalls die „Treue“ halten ließe, kann kaum die Rede sein.

Um die stattliche philologische Fleißarbeit gebührend zu würdigen, wurde das Werk ohne Striche und (über die diskreten instrumentatorischen Eingriffe hinausgehenden) Eingriffe oder Änderungen zur Aufführung gebracht. Doch hätten einige beherzte Kürzungen das Werk angesichts der in den zurückliegenden 250 Jahren erheblich gewandelten Formen der Wahrnehmung hinsichtlich seiner musikalischen Dimensionen goutierbarer gemacht. Was die Tonspur aus einer von Borniertheit nicht freien Hartnäckigkeit des Festhaltens an einem fiktiven „Original“ verweigerte, suchte die Inszenierung des Intendanten/Dramaturgen-Paares Jossi Wieler/Sergio Morabito durch Konzilianz wett zu machen. Zu sehen waren zunächst und immer wieder die ausschweifenden Verhandlungen der erotisch-sexuellen Umorientierung Lucio Veros – ihm verleiht Sebastian Kohlhepp eine modulationsfähige, im Zuge der Rachedrohungen bedrohlich funkelnde und selbstherrlich fetzende Stimme. Aufmerksamkeit erheischt das Ringen des sich als Selbstmordattentäter an ihn heranpirschenden schmächtigen Vologeso (Sophie Marilley) um die vom Vizekaiser erbeutete und begehrte Verlobte Berenice (Ana Durlovski). Dann das Aufkreuzen der ältlichen Cäsarentochter, die auf ihre älteren Rechte an Lucio pocht und ein bisschen zu erpressen versucht: Den Thron in Rom gibt’s nur zusammen mit Helene Schneidermans Bett, auf das es aber auch eine der politischen Chargen abgesehen hat (der virtuos zwischen Counter-Lage und deftigem Bass changierende Igor Durlovski kommt aber auch an diesem Punkt nicht um Ziel …). Das alles wird als heiteres Kammerspiel in Bewegung gesetzt. Die Royals rücken sich die derben Hocker selbst zurecht, um in aussichtsreicher Position zu sitzen, wenn Lucio wie in einem Comic ankündigt: „Man beginne mit den Martern“. Der Kampf des zum Tod in der Arena verurteilten Vologeso wird zum akustischen Ereignis: Der Löwe röhrt, als streiche er den GeigerInnen um die Beine. Würden sie im Graben sitzen, wäre dieser die Löwengrube. Aber auch so bleibt die Anspielung auf das Sozialverhalten des OrchestermusikerInnenrudels gelungen.

Ausgeblendet bleiben neben solcher Konzentration auf die menschlich-allzumenschlichen Paar- und Gruppenbeziehungen die (Neben-)Wirkungen der kriegerischen und bürgerkriegsbedrohten Zeiten, von denen das Werk nicht nur am Rande handelt. Anna Viehbrock ließ den Ausblick von einem überdachten Palast-Vorplatz auf Ephesus minutiös zimmern und auspinseln: Häuser aus verschiedenen Phasen der Stadtentwicklung. Die leichten Anzeichen des Ramponierten deuten eher auf die Zähne der Zeit als auf aktuellen Beschuss hin. Im zweiten Teil wuchern dann Pappkameraden auf der Bühne, die in Anlehnung an die nazarenische Malerei gestaltet wurden (die aber hat weder mit der Antike des Marc Aurel noch mit der Entstehungszeit des Werks oder dessen inniger Verbindung zur Landesgeschichte zu tun). Einerlei – aber so geht es besonders smart. Und gefällt einem auf Sonntagabend geschniegelten und mitnichten auf Theaterkrawall gebürsteten Publikum in der Schwabenmetropole.

Gefahren beim Rasieren: Giovanni Paisiellos „Barbier von Sevilla“ in Wien

Von analogem heiter-unbändigem Unterhaltungswillen wird die Wiedererweckung von Paisiellos „Barbier“ im Theater an der Wien getragen. Stoff und Text dieser 1782 am Hof Katharinas der Großen in St. Petersburg uraufgeführten Oper sind auf denkwürdige Weise vertraut. Es handelt sich just um jenen Plot, den Rossinis Oper von 1815 so dauerhaft und weltberühmt machte. Das dramma giocoso per musica „Il Barbiere di Siviglia“ bewegt sich sehr viel näher auf den Bahnen des ersten Teils der Trilogie von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, in dem Graf Almaviva das schöne reiche junge Mündel Rosina mit Charme und Canzone für sich erwärmt und dann mit List und Tücke an sich bringt. Es ist der weithin noch heitere Vorabend des tollen Tags, an dem sich die Abgründe der Begierden und die Geschlechterdivergenzen auftun (und möglicherweise sogar die Vorahnung von gesellschaftlichen Verwerfungen größeren Ausmaßes). Ein letzter glücklicher Moment.

Der in der Alte Musik-Szene längst zur Ikone erhobene René Jacobs hat, nicht anders als Gabriele Ferro in Stuttgart, die Instrumentierung nachgebessert – mit Notenmaterial, das wohl aus dem Umkreis von Joseph Haydns Tätigkeit in Eisenstadt und auf Estoras stammt. Ansonsten konnte sich der Dirigent auf die gewohnt zuverlässige Arbeit von Petra Müllejans, der Konzertmeisterin des Freiburger Barockorchesters, verlassen. Doch ganz bewerkstelligte auch sie das reibungslose Zusammenspiel nicht. Um nun aber nicht über Aussetzer bei den Holzbläsern oder das allzu intensive Blöken der Fagotte zu beckmessern, sei auf die hochkarätigen Qualitäten der Partitur verwiesen: Wie sehr in ihr einige Errungenschaften, die gewohnheitsmäßig Mozart zugeordnet werden, bereits voll präsent sind. Das Mandolinen-Ständchen zum Beispiel oder die Aufzählungsarie, die in klassischer Manier mit Leporello konnotiert wird. Sie durchstreift bei Paisiello atemlos die Städte und Länder, in denen der ehemalige und nachmalige Diener des Grafen bereits Fuß zu fassen suchte.

Christian Fenouillats Bühnenraum und Agostino Cavalcas Damen- und Herrenausstattung verfrachtet die Story aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ins erste Drittel des zwanzigsten – in die Ära von Alfonso XIII. Mari Eriksmoen ist in dieser säuberlich herausgeputzten Innenwelt eine hellwache, stimmgewandte und erotisch attraktive Rosina, die die kleinsten Spalten, die sich ihr in der patriarchalischen Unfreiheit eröffnen, zu nutzen versteht. Pietro Spagnoli gibt überaus glaubwürdig den alternden Geck Dottore Bartolo, der den Tanz einer vergangenen Zeit viril aufs Parkett legt, sich auch stimmlich mehr als wacker schlägt und sich auch von daher ernsthafte Aussichten auf einen erfolgreichen Zugriff zu eröffnet glaubt. Kurz vor Schluss kommt er seinem eigentlich hoffnungslos illusorischen Ziel noch einmal recht nah, als Rosina erstmals gewahr wird, wie unfein ihr Lindoro – der verführerische „arme Student“ – im Kampf um weibliche Gunst zuweilen zu Werke geht.

Das Regieteam Moshe Leiser & Patrice Caurier hat sich nicht die geringste Mühe gemacht, die Story zu aktualisieren, sondern einer Historisierung besonderer Art unterzogen. Freilich könnte sich die Verbannung der Handlung an den Vorabend des spanischen Bürgerkriegs möglicherweise als dramaturgisch ergiebig erweisen. Dann allerdings müsste eine Inszenierung, die mehr als nur auf die scheinbar unproblematischste Weise „unterhalten“ will, wenigstens in feinen Vibrationen spürbar machen, was sich da in den 1930er Jahren auch in Sevilla zusammenbraute.

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