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INORI mit der Lucerne Festival Academy unter der Leitung von David Fulmer und Lin Liao. Unser Foto zeigt die Mimen-Tänzer Diego Vasquez und Winnie Huang. Fotos: Priska Ketterer/Lucerne Festival
INORI mit der Lucerne Festival Academy unter der Leitung von David Fulmer und Lin Liao. Unser Foto zeigt die Mimen-Tänzer Diego Vasquez und Winnie Huang. Fotos: Priska Ketterer/Lucerne Festival
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Bericht von einer unakademischen Akademie

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INORI – Wiederaufnahme im 90. Geburtsjahr von Karlheinz Stockhausen beim Lucerne Festival
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Das japanische Wort „inori“ bedeutet Gebet, Anrufung, Anbetung. Im Zentrum von INORI (1973/74) stehen 13 Gebetsgesten aus verschiedenen Religionen, die Stockhausen als Orchesterstimmen und Spielanweisungen zugleich komponierte. Das Stück aus den frühen 70er-Jahren ist – wie auch seine Werke „Hymnen“ oder „Telemusik“ – aufgeladen mit außermusikalischer Bedeutung, in diesem Fall mit spiritueller. Unter dem Gesichtspunkt der Debatten um Gehaltsästhetik in der Neuen Musik ist INORI damit topaktuell. Das 70 Minuten dauernde opulente Orchesterstück ist dennoch ein Meisterwerk absoluter Musik, in dem Stockhausen aus einer einzigen Formel einen einzigartigen musikalischen Kosmos erschafft. „Musik dieser Art“, so Wolfgang Rihm, der es 2018 in Luzern auf den Spielplan gesetzt hatte, „hat es vorher nicht gegeben und wird es auch danach nicht mehr geben“.

In seiner großen Fassung für 89 Musiker ist das symphonische Schlüsselwerk wegen seiner komplexen Tänzer-Mimen-Partitur erst drei Mal zur Aufführung gelangt: 1974 und 1998 unter der Leitung von Stockhausen, danach nur ein einziges weiteres Mal 2009. An die vierte  Aufführung hat sich diesen Sommer das Lucerne Festival gewagt. Es galt, das Wissen von Kathinka Pasveer und Alain Louafi an die nächste Musikergeneration weiterzugeben. Nachdem die Tänzermimen der Festival Academy die komplexe Partitur ein Jahr lang intensiv geprobt hatten, kam INORI Anfang September gleich zwei Mal an einem Tag zur Aufführung im Luzerner KKL. Um es vorweg zu nehmen: Es gab Standing Ovations für Peter Eötvös und seine jungen Musiker.

Spricht man wie die Festivalmacher in Luzern von einem „Kosmos Stockhausen“, dann impliziert man schöpferische Überhöhung und Geniekult. Wie nah das Menschliche letztlich aber großen Schöpfungen verbunden sein kann, beschreibt eine weitere Anekdote, dieses Mal erzählt von Tänzer Alain Louafi auf einem Podium im Kongress- und Konzertzentrum Luzern mit Wolfgang Rihm, dem Theologen Thomas Ulrich, Kathinka Pasveer, Peter Eötvös sowie mit dem Gastgeber und Moderne-Dramaturgen Mark Sattler: Louafi erzählte von Begegnungen Stockhausens mit Maurice Béjart auf der gemeinsamen Urlaubsinsel Capri und einer gewissen Eifersucht Stockhausens auf Ballettchoreographen im allgemeinen – und womöglich auf Béjart im Besonderen –, die sich so einfach jeder gewünschten Musik bedienen können, um sie in den Dienst ihrer Kunst zu stellen. Indem Stockhausen bei INORI alle Tanz-Bewegungen minutiös in der Partitur festhielt, sie so zum Teil der Partitur machte, spielte er ganz nebenbei erfindungsreichen Choreografen ein Schnippchen. Diese Musik zu vertanzen, ist undenkbar.

Musik höre man am besten mit geschlossenen Augen, zitierte Kathinka Pasveer den Komponisten Karlheinz Stockhausen, aber es sei eben schön, öffne man dabei die Augen, etwas Schönes zu sehen. Das Bonmot des Komponisten war Hinweis auf die Tänzer-Mimen, deren Aktionen er in der INORI-Orchesterpartitur exakt festgelegt hatte, insbesondere aber auch ein Kompliment an die Flötistin Katinka Paasver, die diese Partie bereits mehrmals zusammen mit dem Tänzer Alain Louafi spielte. Das Auge hört also mit und ist doch neben dem Ohr, dem synkretistisch religiösen Gehalt des Werks und der raffinierten Partitur nur einer von mehreren Zugängen zu INORI.

Von der DNA des Festivals

Seit 1999 leitet Intendant Michael Haefliger das traditionsreiche Lucerne Festival – früher Internationale Musikwochen Luzern. Gemeinsam mit Pierre Boulez erweiterte er 2003 das große Fest symphonischer Musik um eine Music Academy, deren Aufgabe es sein sollte und es bis heute ist, die Aufführungspraxis großer Werke des 20. und 21. Jahrhunderts an die junge Generation weiterzugeben. Dazu lädt man Jahr für Jahr ein knapp  hundert junge Musiker aus der ganzen Welt dazu ein, kostenfrei einige Wochen in Luzern zu verbringen und internationale Festivalluft zu schnuppern. Die Bedingung: Die Akademisten proben Schlüsselwerke der Moderne, führen sie auf und bestreiten zudem auch die eine oder andere Uraufführung.

Durch die Academy, die junge Dirigenten und Komponisten ausbildet, zählt die Musik der Gegenwart zur DNA des Lucerne Festivals. Nach fünfzehn Jahren Arbeit ist man heute in der Lage, Alumni, die inzwischen Karriere gemacht haben, wiederum als Künstler zu diversen Projekten einzuladen, in deren Rahmen sie ihrerseits die ganz Jungen anleiten. Aus einer groß gedachten kleinen Keimzelle ist lebendige Vielfalt zeitgenössischer Musizierpraxis entstanden, die weltweit ihre Wirkung entfaltet.Die Musiker der Academy bestritten in dieser Saison Stockhausens „Gruppen“ unter Jaehyuck Choi, Simon Rattle, Duncan Ward und mit dem London Symphony Orchestra. Sie spielten die Uraufführung von „Reading Malevich“ von Peter Eötvös unter Matthias Pintscher – der diesen Sommer überraschend seine Arbeit für die Academy aus persönlichen Gründen niederlegte –, erarbeiteten zusammen mit dem Akademie-Chef Wolfgang Rihm eine „Hommage an Klaus Huber“ oder Bernd Alois Zimmermanns „Konzert für zwei Klaviere und Orchester“. Unter den insgesamt 15 Aufführungen der Akademisten und der Academy-Alumni war sicher Stockhausens INORI diejenige, an der sich am besten zeigen lässt, wie aufwändig und gleichzeitig erfüllend die Luzerner Akademiearbeit sein kann.

Zeitzeugen

Als Rihm 2016 zusammen mit Matthias Pintscher die Nachfolge in der Academy antrat, äußerte er bereits damals den Wunsch, einmal INORI aufzuführen. 1974 war er bei der Uraufführung in Donaueschingen Zeitzeuge gewesen. Rihms Sehnsucht traf nicht nur bei Michael Haefliger und dem Dramaturgen auf Widerhall, sondern auch bei Peter Eötvös, der der Academy seit vielen Jahren als Dirigent und Komponist verbunden ist. Bei der Entstehung von INORI hatte er engstens mit Stockhausen zusammengearbeitet und 1973 mehrere Monate lang mit Louafi die Gebetsgesten einstudiert. Während sich Rihm nach eigenen Worten noch heute „von den Eindrücken der Uraufführung nährt“, sagt Eötvös, er könne das Werk nach dieser intensiven Probezeit damals heute noch mit- und vor allem vorsingen. INORI war für ihn ein Herzensprojekt und typisch für die Academy-Arbeit ist es, dass er seine Erfahrung mit dem Werk an die Dirigenten der Luzerner Aufführungen Lin Liao, David Fulmer und Gergely Madaras weitergab. Beinahe ein Jahr probten Katinka Paasver und Alain Louafi mit den Tänzermimen Jamill Attar, Emmanuelle Grach, Winnie Huang und Diego Vásquez die Partie der Gebetsgesten, die auf einem über zwei Meter hohen Podest mitten im Orchester zelebriert werden. Die minutiös aufgeschriebene Musikformel auswendig zu lernen, ist zeit- und kostenaufwändig. Dass sich der Aufwand gelohnt hat, wurde den beiden Aufführungen des Academy-Orchesters deutlich. Das Publikum, bestehend aus Intendanten, Agenten, Kollegen, Musikenthusiasten, Sponsoren, Kennern und Kindern aus den Gastfamilien der Akademisten, atmete vom ersten bis zum letzten Ton mit. Spirituelle Tiefe, Klangsinnlichkeit und die einzigartige Choreografie zogen alle in ihren Bann. Die hochbegabten jungen Academy-Akteure spielten Stockhausens Orchestermusik lebendig, als sei sie aus dem Jahr 2018 und nicht 44 Jahre alt. Die 70 Minuten Konzert waren auch für sie letztlich ein kosmischer Augenblick, der viel zu schnell vorüberging. Doch bereits vier Stunden später spielte das Academy Orches-tra noch eine zweite Aufführung: Respekt auch dafür, denn welches „normale“ Kulturorchester würde sich so eine Anstrengung außerhalb jeder tariflichen Norm aufbürden und das, obwohl die jungen Musiker erst am Abend zuvor beim Sinfoniekonzert 15 im „Eötvös‘schen Kosmos“ gelebt und musiziert hatten.

Mit Verve, Klangsinn und großer Präzision hatte das Academy Festival Orchestra Eötvös‘ Orchesterwerk „Reading Malevich“ (Uraufführung), Kurtágs „Stele für großes Orchester“, Máté Bellas „Lethe“ für Streichorches-ter sowie das Konzert für 2 Klaviere und Orchester, „Dialoge“, von Bernd Alois Zimmermann zur Aufführung gebracht. Das Besondere dieser Akademie, so Wolfgang Rihm, sei „die erregende Gestimmtheit aller: Bestes geben zu wollen; die nie nachlassende Arbeitsenergie, die Begeisterungsstürme in den Konzerten. Eigentlich ist die Bezeichnung ‚Akademie‘ viel zu akademisch für diese große Freiwilligkeit, mit der da die Zukunft gestaltet und verantwortet wird.“

Wie realisiere ich mein Werk?

Insgesamt gab es 240 Bewerber mit dem Höchstalter 32 Jahre für das Composer Seminar der Academy, davon 61 Komponistinnen. Die Auserwählten Yiqing Zhu, Ivan Vukosavlevic, Samir Amarouch, Andrés Nuno De Buen, Nathanael Gubler und Alex Vaughan – warum eigentlich alles Männer? – stellten sich der Frage: „Wie realisiere ich mein Werk?“ und gaben unterschiedliche Antworten; mal skizzenhafte, mal mit einem Ausschnitt aus einem noch einzulösenden großen Opus, mal meditativ, mal verspielt, mal attacca – oder wie bei Ivan Vukosavlevics „Ghost“ für Vibraphone und Bassklarinette in Form eines vollendeten Vierminüters. Die Arbeiten der Generation, die sich da diesen Sommer in Luzern zeigte, waren bei weitem nicht homogen, setzten vielgestaltige Akzente und man ist neugierig, welcher der Namen bald im Musikbetrieb reüssieren wird. So oder so: Eine Teilnahme an der Academy ist mit Sicherheit ein Karrierebeschleuniger. Spätestens dann, wenn man als Student in seine Vita schreiben kann: Mitglied des Orchesters der Lucerne Festival Academy, mit „Gruppen“ von Karlheinz Stockhausen, „Et exspecto resurrectionem mortuorum“ von Olivier Messiaen, „No hay caminos, hay que caminar …“ von Luigi Nono unter der Leitung von Sir Simon Rattle.

Zwanzig Jahre Konzertsaal

Während die 2003 von Pierre Boulez gegründete und seit 2016 von Wolfgang Rihm weitergeführte Lucerne Festival Academy ihr 15. Jubiläum begehen konnte, feierte der Luzerner Konzertsaal dieses Jahr bereits sein 20-jähriges Bestehen. Das Herzstück des Bauwerks von Jean Nouvel und dem Akustiker Russell Johnson gilt trotz weltweitem Konzerthaus-Boom weiterhin als Maßstab für hervorragende Akustik und architektonisch überzeugend gestaltete Funktionalität und trägt maßgeblich mit zur Ausstrahlung und Reputation des Lucerne Festivals bei. Der Konzertsaal ist nicht nur Wahrzeichen für die Stadt am Vierwaldstätter See geworden, sondern auch Sinnbild für den Mut zum Experiment: architektonisch und musikalisch.

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