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Testbatterie in acht Akten: Enno Poppes „IQ“ bei der MaerzMusik in Berlin. Foto: Kai Bienert
Testbatterie in acht Akten: Enno Poppes „IQ“ bei der MaerzMusik in Berlin. Foto: Kai Bienert
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Berlin als Magnet musikalischer Immigration

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Die letzte Ausgabe des Festivals MaerzMusik unter der Leitung von Matthias Osterwold
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Als Matthias Osterwold 2002 als Nachfolger Heike Hoffmanns die Leitung der Musik-Biennale Berlin übernahm, schob er das 1967 in der DDR gegründete Fes-tival zeitgenössischer Musik als jährliche „MaerzMusik“ vom Februar in den März. Der neue Name bezog sich nicht allein auf den veränderten Termin, sondern ebenso auf die Merz-Kunst Kurt Schwitters’. Entsprechend wurden Dadaismus und Klangkunst verstärkt in die Programme einbezogen. Diesem Interesse hatte der Stadtsoziologe, Volkswirtschaftler und Musikwissenschaftler Osterwold schon im Berliner Verein „Freunde Guter Musik“ gehuldigt. Das damalige Spezialgebiet wurde nun Schwerpunkt eines maßgeblichen Festivals zeitgenössischer Musik.

Osterwold spricht lieber von aktueller Musik, von nichthierarchischen Grenzüberschreitungen und interkulturellen Randphänomenen. Diese Neigung wurde vom Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes geteilt. Deshalb präsentierte auch die dreizehnte MaerzMusik, die letzte mit Matthias Osterwold, unter dem Motto „Nach Berlin! Nach Berlin! Berlin – Magnet musikalischer Immigration“ nicht zuletzt auch DAAD-Stipendiaten. In einem Begleitheft waren Interviews mit den Komponisten und Interpreten Arnold Dreyblatt, Chico Mello, David Moss, Sergej Newski, Rebecca Saunders, Heather O’Donnell, Oliver Schneller, Samir Odeh-Tamimi, Mark Andre, Simon Steen-Andersen und Ondrej Adámek abgedruckt, die die kulturelle Vielfalt und künstlerische Freiheit in Berlin priesen.

Konzerte am besonderen Ort

Auch bei der diesjährigen MaerzMusik verband sich die programmatische Vielfalt und informative Dichte mit einer qualitativen Unausgeglichenheit. Wieder gab es mehrere Musikwerke bildender Künstler, vor allem „Part File Score. Zwölf Arten Hanns Eisler zu beschreiben“ der Schottin Susan Philipsz im Hamburger Bahnhof, dazu sogenannte „Sonic Arts Lounges“ sowie Konzerte am besonderen Ort, im Museum für Naturkunde, im Szeneclub Berghain, in der Paul-Gerhardt-Kirche Schöneberg oder der ehemaligen Fahrbereitschaft der DDR-Minister. Allerdings ist das Berghain, das immer noch neugierige Besucher anzieht, nicht unbedingt ein Ort für leise Musik. Bei „Yarn“ von Marianthi Papalexandri-Alexandri störten laute Nebengeräusche aus dem Treppenhaus das leise Schaben auf einer Angelschnur. Dem dänischen Ensemble Scenatet kam es nicht zuletzt auf visuelle Aspekte an. Sarah Nemtsov hatte für diese gesorgt, indem sie ihre Komposition „Briefe.Puppen“ simultan durch ein zweites Stück ergänzte. Szenisches bestand hier in den auf eine Videoleinwand projizierten Aktionen der zweiten Interpretengruppe. Stärker wirkte „Amid“ von Simon Steen-Andersen, eine Folge von Geräuschimpulsen, die allmählich verebbten, dabei aber immer deutlicher ihre zarten -Klangschatten hervortreten ließen. Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, von der schon Sarah Nemtsov ausgegangen war, steigerte Juliana Hodkinson in ihrer halbstündigen Komposition „Angel View“ für Ensemble und Elektronik. Diese bewusst unlogische Assemblage aus Straßenbahnquietschen, Polizeisirenen und dem zerschlagenen Porzellan einer Festtafel, die den „Surrealismus des täglichen Lebens“ wiedergeben sollte, beschäftigte Auge und Ohr gleichermaßen.

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz wird leider nur noch selten für Konzerte genutzt. Hier stellte sich das neugegründete Ensemblekollektiv Berlin vor, bestehend aus Mitgliedern des deutsch-isländischen Ensembles Adapter, des Sonar Quartetts sowie der Ensembles Apparat und Mosaik. Bei Hanna Eimermachers „Überall ist Wunderland“ trat das ganze 27-köpfige Ensemble aufs Podium und blieb dort minutenlang stumm stehen, bevor es in verschiedenen Tempi sich überlagernde Sekundpendel spielte. Nach lauten Glockenschlägen standen zum Schluss die Musiker wieder stumm und schienen mit dem Dirigenten Titus Engel zu kippen. Die humoristische Seite zeitgenössischer Musik entdeckte man auch in Ondrej Adámeks „Karakuri Poupée Mécanique“ mit einer mechanischen Puppe aus Japan, einen Bogenschützen darstellend, als Ausgangspunkt. Rodrigo Ferreira imitierte die Bewegungen des Bogenschützen und wurde wiederum von den Musikern klanglich imitiert. Der Solist als Rivale des Dirigenten – eine originelle Idee.

Die Glocken des Freiburger Müns-ters hatten Clara Iannotta zu „Clangs“ für Violoncello und 15 Spieler angeregt. Der schabende Beginn passte nicht ganz zu der an Gamelans erinnernden Fortsetzung. In Istanbul, wo der in Berlin lebende israelisch-palästinensische Komponist Samir Odeh-Tamimi „Cihangir“ konzipierte, gib es statt Glocken lautsprecherverstärkte Muezzins, die manchmal singen, häufig aber schreien. Entsprechend lärmend grell fiel mit Posaunenglissandi, heftigen Akzenten und Bongotrommeln diese Komposition aus, die mit einem stampfenden Volkstanz endete. Dazwischen wähnte man sich in Sergej Newskis „Fluss“ für Sprecher und Ensemble in einem Horrorfilm. Jakob Diehl gestaltete keuchend, stammelnd, sabbernd und schreiend und vom Ensemblekollektiv unter Titus Engel entsprechend begleitet, mit erschreckendem Realismus die Wahnsinnsarie eines Kranken. In der beklemmenden Darstellung von Angst und Schrecken fand Arnold Schönberg in Newski einen würdigen Nachfolger. Oder war alles am Ende nur ein Jux, eine Übersteigerung des Frankenstein-Musters?

In der Paul-Gerhardt-Kirche Schöneberg, einem wegweisenden Neubau Hermann Fehlings, war die Uraufführung von „morepianos I und II“ von Makiko Nishikaze zu erleben. Die Japanerin hatte schon zwei Jahre in der kalifornischen Performance-Szene gearbeitet, bevor sie 1994 zu Walter Zimmermann nach Berlin kam. Ihre Komposition verknüpft den visuellen und musikalischen Raum, indem neun überwiegend von nichtprofessionellen Interpreten gespielte und geschobene Klaviere abschnittweise ihre Position wechseln. Klanglich wirkte das Gegenüber beispielsweise schwarzer und weißer Tasten und hoher und tiefer Töne, ergänzt durch Schiebegeräusche, eher bescheiden, weniger überzeugend als die geistreiche Werk-analyse Helga de la Motte-Habers.

Klassische Aufführungsorte

Das Ensemble Berlin PianoPercussion bot im Kammermusiksaal der Philharmonie vier Uraufführungen, die gewichtigste von dem nicht in Berlin lebenden Hugues Dufourt. Ein Wahl-Berliner ist dagegen Mathias Spahlinger, der in diesem Jahr den Großen Berliner Kunstpreis erhielt. Vor seinem „Carte Blanche“-Konzert mit dem ausgezeichneten Trio Recherche versuchte er in der Akademie der Künste zu erklären, wie Musik Wirklichkeit konstituiert. Spahlingers These, die neueste Musik habe sich von der Tradition verabschiedet, stieß bei den Mitdiskutanten Cornelius Schwehr und Björn Gottstein auf Widerspruch. Während Spahlinger Schönbergs Streichtrio mit Stockhausen verglich, meinte Schwehr, Schönberg habe auch hier insgeheim noch tonal komponiert. Den 1993 entstandenen Trios von Schwehr und Spahlinger, die sich kratzend und schabend im Pianissimo-Bereich bewegten, waren die beabsichtigten Bezüge auf den Tanz beziehungsweise auf Schönberg kaum anzumerken. Hörerfreundlicher als solch subtile Kunst der Andeutung, wirkte der klare Formprozess im Trio des jungen Simon Steen-Andersen.

Unsuk Chin lebt seit 1988 in Berlin, wohin sie auf Empfehlung ihres koreanischen Lehrers Sukhi Kang gekommen war. Das breite Kulturangebot der Großstadt faszinierte sie, ebenso aber auch die Möglichkeit, hier „wie auf dem Dorf“ zu leben. In Berlin stieß Unsuk Chin auf den hier seit 1995 ansässigen chinesischen Sheng-Virtuosen Wu Wei. Seit ihrer Jugend liebt die Komponistin dieses alte Instrument, das heute in Korea kaum noch erklingt. Nach der Begegnung mit Wu Wei fasste sie spontan die Idee, ihm ein Konzert zu schreiben. Bei der Aufführung von „Šu“ (ägyptisch für „Luft“) im Berliner Konzerthaus faszinierte der Solist, der auch chromatische Mehrklänge tänzerisch rhythmisierte. Häufig griff das Orchester dies in vergrößerter Form auf. Da Wu Wei über einen scheinbar unendlichen Atem verfügt, konnte der Werktitel auf ihn bezogen werden.

Der aus Thun stammende Michael Wertmüller war 1995 wegen Dieter Schnebel nach Berlin gekommen, wo ihn dann auch Musiker wie Nick Cave und Blixa Bargeld begeisterten. Sein Konzert für Klavier/Orgel und Orches-ter „Zeitkugel“, das 2010 bei der Uraufführung in Luzern als „unspielbar“ gegolten hatte, erklang nun in einer revidierten Fassung. Beflügelt durch den Dirigenten Peter Rundel stellte sich das Konzerthausorchester der Herausforderung. Angeregt durch Bernd Alois Zimmermann und Charles Ives wollte Wertmüller durch die Simultaneität verschiedener Ereignisse die „Kugelgestalt der Zeit“ erfahrbar machen und setzte dazu neben dem Hauptdirigenten vier Subdirigenten mit jeweils eigenen Tempi und wechselnden Orchestergruppen ein. Obwohl die Aufführung mit dem fabelhaften Klavier- und Orgelsolisten Dominik Blum technisch gelang, dominierte der Eindruck chaotischen Leerlaufs.

Nicht die Überfülle von Wertmüllers „Zeitkugel“, die Musiker und Hörer permanent überforderte, bildete den Höhepunkt dieses Konzertabends, sondern die Uraufführung eines Orchesterwerks von Friedrich Goldmann. Das in dessen Nachlass entdeckte „Konzertstück für Orchester“ faszinierte durch seine geistreiche Entwicklung und die konzentrierte Transparenz, wobei besonders Vibraphon und Marimbaphon das Klangbild prägten. Trotz des perio-dischen Wechsels von Vorwärtsstürmen und Innehalten hielt dieses nur elf Minuten dauernde Werk immer wieder Überraschungen bereit.

Ist Intelligenz messbar?

Beim Versuch, traditionelle Konzertformen aufzubrechen, hat Matthias Osterwold oft auch Musiktheatralisches in die MaerzMusik einbezogen. Einen Coup landete er in diesem Jahr mit dem Gastspiel der Oper „Einstein on the Beach“ von Philip Glass und Robert Wilson, was durch die finanzielle Unterstützung Inga Maren Ottos ermöglicht wurde. Ebenfalls noch vor dem eigentlichen Festivalbeginn hatte man das für Basel entstandene Musiktheater „Schau lange in den dunklen Himmel“ der Tiroler Blaskapelle Franui erleben können. Helvetische Gelder hatten es auch möglich gemacht, dass die schweizerische Komponistin Mela Meierhans seit 2006 alle Teile ihrer „Jenseitstrilogie“ bei der MaerzMusik präsentieren konnte. Der jetzt vorgestellte letzte und persönlichste Teil, „Shiva for Anne“, ist eine szenische Kantate für Sprecher, Kammerchor und Perkussion. Angestrengt suchte die Komponis-tin bei ihrer verstorbenen jüdischen Dichter-Freundin Anne Blonstein nach jüdischen Elementen. Da diese aber Nähe nicht zuließ und auch nicht besonders religiös war, reicherte Mela Meierhans ihr Werk um verborgene „jüdische“ Elemente wie eine Schönberg’sche Zwölftonreihe und das hebräische Alphabet an. Eine weitere beabsichtigte Symbolik, die Kondensierung der sieben Schiwa-Trauertage auf 70 Minuten, verschwand allerdings. Denn anders als geplant dauerte das Werk bei der Uraufführung nicht 70, sondern 110 Minuten. So ließ sich kaum noch das jüdische Trauerritual erahnen, das angeblich das Zentrum bildete.

Ebenfalls mit großzügiger Förderung aus der Schweiz kam in einer „Uraufführung der komplettierten Fassung“ das Musiktheater „Anschlag“ von Michael Wertmüller und Lukas Bärfuss in das immer noch arme Berlin. Das Werk war für das Lucerne-Festival entstanden, das 2013 unter dem Motto „Revolution“ stand, und vertritt die aparte Ansicht, fehlerhafte Körperfunktionen wie die Harnleiterverengung Jean-Jacques Rousseaus seien mitverantwortlich für die Französische Revolution. Das Libretto reiht zwölf provokative Texte über sexuelle Praktiken, Geschlechtskrankheiten, die sadistische Zerstückelung einer Adelsdame oder von Tieren und schließlich über Tod und Weltende aneinander. Solche eigentlich unsingbaren Inhalte, die glücklicherweise szenisch nur angedeutet waren, wurden zu relativ konventionellen Opernarien im Stile von Strauss oder Schostakowitsch verarbeitet. Die Sängerinnen Clara Meloni, Anne-May Krüger und Ruth Rosenfeld und der Tenor Karl-Heinz Brandt widmeten sich aufopfernd dieser Aufgabe und wurden dabei unter Leitung von Titus Engel abwechselnd von einem hochvirtuosen Streichquartett und dem Hardcore-Trio Steamboat Switzerland begleitet. Trotz Lautversprecherverstärkung war – mit Ausnahme des Tierquälerei-Exkurses – kaum etwas zu verstehen. Auch bei der Werkeinführung konnte der Komponist sein „wider die neue Musik, wider den Verstand“ gerichtetes Werk nicht erklären. Offenbar treibt ihn immer noch ein pubertär-anarchischer Protest gegen das „Drecksnest“ Thun, aus dem er –ebenso wie Bärfuss – stammt.

Die wichtigste Musiktheater-Aufführung war dagegen gleich am Anfang des Festivals zu erleben. Mit „IQ. Testbatterie in acht Akten“ hatten Enno Poppe und Marcel Beyer eine wunderbar ironische und angesichts der Pisa-Tests zugleich höchst aktuelle Satire auf die angebliche Messbarkeit von Intelligenz geschaffen. Das Messen wird als „vermessen“ ad absurdum geführt. Wie schon 2012 bei der Schwetzinger Uraufführung wirkten die Musiker des Klangforum Wien unter der Leitung des Komponisten nicht nur als Instrumentalisten, sondern auch als Probanden mit, wobei die Tests stufenweise vom Einfachen zum Komplizierten fortschritten. Das Grundprinzip Variation beherrschte das Szenische, die sprachspielerisch immer unsinniger werdenden Texte und nicht zuletzt das Musikalische, das zunehmend raffinierter und komplexer wurde. Schon höhere Intelligenzgrade waren erforderlich, wenn die Testpersonen schnelle Tonfolgen der Tester nachspielen sollten. Anna Viebrock, die über die Zusammenarbeit mit Christoph Marthaler zur Oper gekommen war, hatte einen nüchternen Testraum konstruiert, in dem die Probanden den Testleitern gegenübersaßen. Zum Schluss wurden den Probanden ihre Ergebnisse mitgeteilt und jeder von ihnen erhielt zur Belohnung eine Gitarre. Beglückt wanderten die Musiker des Klangforums mit ihren neuen Instrumenten von der Bühne in den Orchestergraben. Selten hat sich die Neue Musik-Szene so selbst-ironisch dargestellt. Selten hat man in einer Opernaufführung so befreit lachen können.

Bei der diesjährigen MaerzMusik, die eindrucksvoll die Internationalität der Berliner Musikszene vermittelte, wurden insgesamt 15.000 Besucher gezählt. Für die nächste Ausgabe wird Osterwolds Nachfolger Berno Odo Polzer, der dann seine Erfahrungen mit dem Musikfestival Wien Modern einbringt, verantwortlich zeichnen.
 

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