Im Jahre 1972 brachte eine Tourneeproduktion der Thalia-Theater AG Zürich Goethes „Faust I“ mit Darstellern des Wiener Burgtheaters in eine Reihe deutscher Städte. Die Inszenierung von Ernst Häusserman im Bühnenbild von Lois Egg siedelte – sechs Jahre nach dem Tod Wieland Wagners – „Faust“ wie dessen Sicht auf die „Ring“-Tetralogie auf einer Scheibe an. Jetzt erlebte dieser szenische Goethe-Umgang ein Remake mit Hector Berlioz „La Damnation de Faust“, in französischer Sprache, aber unter dem deutschen Titel, an der Deutschen Oper Berlin, auf quer gestellter Scheibe und partiell (fehl-)besetzt mit Bayreuther Wagner-Sängern.
Die Dramatische Legende in vier Teilen auf ein Libretto von Hector Berlioz und Almire Gandonnière, frei nach Goethes „Faust I“ in der Übersetzung von Gérard de Nerval, erlebte ihre Uraufführung zunächst 1846 konzertant in Paris, wird aber seit ihrer szenischen Uraufführung, 1893 in Monte Carlo, als ein für ungewöhnliche szenische Konzeptionen lohnendes Sujet häufig auch auf der Bühne realisiert.
Hector Berlioz wollte seiner Partitur ursprünglich die Gattungsbezeichnung „opéra de concert“ geben. Wohl aus diesem Grunde lässt Generalmusikdirektor Donald Runnicles das Orchester, in Stufen gestaffelt, rechts und links aus dem Graben wachsen.
Diese Anordnung verhindert zugunsten einer oratorisch überaus transparenten Präsenz die von Berlioz angestrebte Klangmischung – und sie verweist auch optisch überdeutlich auf die Reduzierung des Orchesterapparats. Denn in der Schlussszene spielen anstelle der von Berlioz geforderten acht bis zehn Harfen nur deren vier.
Auch den kindlich-reinen Klang bei der Apotheose umgeht Runnicles, indem er nicht nur auf die vom Komponisten für das Schlussbild geforderten 200 bis 300 Kinder verzichtet, sondern auch dessen Hinweise, wie klanglich zu verfahren sei, falls nur 30 bis 40 Kinder zur Verfügung stünden, negiert, indem er auf den Einsatz junger Stimmen völlig verzichtet. Das weckte beim Rezensenten wehmütige Erinnerungen an den gleichermaßen hinreißenden Einsatz des Prager Philharmonischen Kinderchors in Harry Kupfers Inszenierung in Bregenz, den der Tölzer Knaben bei den Salzburger Festspielen und den des Kinderchors der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund bei den Aufführungen der Ruhrtriennale Bochum.
In der jüngsten Berliner Produktion kommt auch der Dämonenchor in Emanuel Swedenborgs Sprache der Verdammten seltsam verhalten daher. Dies mag an der gezirkelten Aufstellung des Herrenchors am Rand der Scheibe liegen, denn in Auerbachs Keller, dem 2. Bild des 2. Teils, bewies der von William Spaulding einstudierte Herrenchor mit der blasphemischen Choralfuge über das „Amen“ nach Branders Lied faszinierende Durchschlagskraft.
Zum Höllenritt werden auf zwei herabgelassene Screens animierte, galoppierende Pferde projiziert – als ein schwacher Nachgeschmack der sich in der Videoprojektion multiplizierenden Pferde in der Inszenierung der spanischen Theatertruppe La Fura dels Baus bei den Salzburger Festspielen; dort war die Handlung als eine überaus spannende Endzeitversion zu erleben.
Da sich die Pferde in Jan Joost Verhoefs Videoprojektion, sobald im Text von Skeletten die Rede ist, in deren Gerippe verwandeln, gemahnt die Berliner Version hier deutlich an die Ratten- und Hunde-Videos in Hans Neuenfels’ Bayreuther „Lohengrin“-Inszenierung.
Den „Revue-Charakter des Werks zu betonen“, war die erklärte Absicht des Choreographen Christian Spuck, der für die Berliner Neuinszenierung verantwortlich zeichnet. So begann der Opernabend mit einem stummen Pas de Deux eines farbigen Méphistophélès-Doubles und eines blonden von Faust. Insgesamt zehn Tänzer agieren als Geister, als Ratte (wirkungsstark bei Branders Lied, das von Marko Mimica prachtvoll intoniert wurde) oder als Doubles des Liebespaars. Der in Naturbetrachtungen versunkene Faust sitzt an einem leeren Studiertisch vor einer Gruppe eingetopfter Bäumchen (Ausstattung: Emma Ryot).
Von Spuck durchaus geschickt geführt ist der schwarz uniformierte Chor, die Damen mit gelbblonden Perücken, die Herren mal als marionettenhafte Zinnsoldaten, mal als glitzerbefrackte Dämonen. Fragwürdig sind hingegen szenische Lösungen im Detail, wie Leuchtstäbe unter Schleierumhängen bei den Irrlichtern, oder die mindestens einmal zu oft eingesetzte Stichflamme aus der Hand des Méphistophélès. Vor dem ersten Erscheinen Marguerites, mit feuerrotem Unterrock unter schwarzem Kostüm, agiert der Höllengeist mit einem Marguerite-Püppchen.
Monochrome historische Ansichten auf Postkartenprospekten werden als Naturbild oder perspektivische bürgerliche Stube (mit durchsichtigen Fenstern) eingesetzt, und unter der auf der Drehbühne zirkulierenden Scheibe werden die ungeordneten Stühle einer scheinbar hastig aufgebrochenen Orchesterformation sichtbar; zurückgeblieben ist nur die Solo-Englischhornistin Chloét Payot, um Marguerite bei der sehr freien Version von „Meine Ruh’ ist hin“ trefflich konzertierend zu begleiten.
Mit warmem, sinnlichem Timbre gestaltet Clémentine Margaine die Mezzopartie, deren sexuelles Verlangen nach Faust durch die Interruption von Méphistophélès unerfüllt bleibt, wodurch Marguerite bei Berlioz nicht zur Kindsmörderin werden kann, aber in der vergeblichen Hoffnung, Faust würde sie, wenn ihre Mutter schläft, nächtens erneut besuchen, die Mutter Oppenheim sukzessive vergiftet.
Die deutsche Rückübersetzung der französischen Texte in der Übertitelung zeigt deren freien und bisweilen auch erhellenden Umgang mit Goethes Original. So liebt etwa im Floh-Lied der König das Ungeziefer nicht „wie einen eignen Sohn“, sondern wie seine eigene Tochter.
Samuel Youn, der in der aktuellen Bayreuther Festspielproduktion „Der fliegende Holländer“ die Titelpartie verkörpert, leiht dem Méphistophélès mit Taschenspielertricks in der ansonsten fast auf Requisiten verzichtenden Aufführung Witz und stimmlich profunde Schärfe; sein Lachen, nach dem Verklingen der „höheren Regionen“, hat in dieser Aufführung das letzte Wort.
Faust ist mit dem Bayreuther Lohengrin Klaus Florian Vogt besetzt; mit seinem linearen, geradezu knabenhaft geführten Tenor wirkt er hier mehr wie Fausts Famulus Wagner, denn wie dessen grenzüberschreitender Lehrer. Bei der Höllenfahrt ist er kaum zu hören, obgleich er besonders nahe am Publikum, vor dem Souffleurkasten, positioniert ist.
Durchaus in Höchstform, sauber, nuanciert und inspiriert, spielt das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Donald Runnicles.
Am Ende der pausenlos zweieinviertelstündigen Premiere brauste heftiger Beifall auf, untersetzt mit einigen Buhrufen für den Tenor.
Weitere Aufführungen: 27. 2., 5., 8., 3., 23., 26., 29. 5., 1. 6. 2014.