Bernard Haitink gibt in Luzern sein letztes Konzert. Mit den Wiener Philharmoniker geht es weniger um die letzten Dinge: der Dirigent führt noch einmal vor, wie nah ein sachbezogenes Musizieren dem Kern eines Werkes wie Bruckners siebter Sinfonie kommt. Ein Bericht von Götz Thieme.
Es kam, wie es kommen musste an so einem mit Erwartungen aufgeladenen Abend: auf den nicht scharf abgerissenen, sondern voll und rund gesetzten Schlussstein nach den letzten acht Fortefortissimo-Takten im jubelnden E-Dur folgte respektvolle Stille im Konzertsaal des Luzerner Kultur- und Kongresszentrums. Sie währte kurz, mit einer für ihn typischen, beiläufig wegwischend-winkenden Bewegung der linken Hand beendete Bernard Haitink allzu lang währende Ehrfurcht. Hier hatte man keinem Hochamt beigewohnt, sondern schlicht einer Aufführung von Anton Bruckners siebter Sinfonie „nach der Edition von Leopold Nowak“, wie es im Programmheft hieß – und wie es Bernard Haitink in seiner zurückgenommenen, bescheidenen Art formuliert hätte.
Auch wenn es wohl das letzte Konzert des Dirigenten gewesen ist. Im März dieses Jahres ist Haitink neunzig geworden, seit 65 Jahren hat er alle bedeutenden Orchester dirigiert. Im vergangenen Jahr hatte der Niederländer angekündigt, im Herbst 2019 ein Sabbatical einzulegen; wie er in einem Interview wenig später einräumte, ist davon auszugehen, dass es ein endgültiger Abschied vom aktiven Musizieren wird.
Freilich, fügte Haitink an, wenn man ihn riefe, um spontan auszuhelfen, er ließe mit sich reden, wenn er sich in der Lage dazu fühlte… Man verzeiht einem Großen diese rhetorische Hintertür. Wem fiele es nicht schwer, endgültig den Taktstock nach einer erfolgreichen Kariere niederzulegen? Die wenigsten bedeutenden Dirigenten haben es geschafft, rechtzeitig abzutreten, bevor die letzten Auftritte im Zeichen von Hinfälligkeit, offenkundig geschwundenen Kräfte an ihrer Würde kratzten. Arturo Toscanini, Kurt Sanderling, Carlo Maria Giulini gehören dazu. Und wenn er klug ist, Bernard Haitink. Nach einigen Stürzen geht er zwar langsam und vorsichtig aufs Podium, bedient sich eines eleganten Gehstocks mit Silbergriff: hebt er den Taktstock erscheint Haitink vollkommen alert und in seiner Zeichengebung fest und sicher.
In diesem Jahr hat er die Runde gemacht, Abschied genommen von seinen Orchestern, unter anderem dem Concertgebouw-Orchester, dem Chamber Orchestra of Europe, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem London Symphony Orchestra, den Berliner Philharmonikern und der Niederländischen Radio-Philharmonie, bei der er 1955 seinen ersten Dirigentenposten angetreten hatte. Oft stand bei diesen Farewell-Terminen Bruckners siebte Sinfonie auf dem Programm. Wie nun bei der letzten Tour mit den Wiener Philharmonikern, die nach zwei Matineen bei den Salzburger Festspielen und einem Abend bei den BBC Proms in der Royal Albert Hall in London in Luzern endete.
Als Bernard Haitink 1972 zum ersten Mal die Wiener Philharmoniker dirigiert hat, die ihn kürzlich zum Ehrenmitglied ernannt haben, gehörte keine Frau dem Orchester an. Seither hat sich einiges geändert. An diesem 6. September 2019 sah er in viele junge Gesichter und von mehr als achtzig Musikern waren acht Frauen, immerhin (es gingen mehr). Zwei davon an ersten Holzbläserpositionen, was vor 47 Jahren den Herren wie ein Sakrileg erschienen wäre. Aber wie phänomenal fügte sich nun die Fagottistin Sophie Dervaux in den Satz ein, setzte mit Buttertönen den Bass, trat andererseits mit individueller Farbe in Ludwig van Beethovens viertem Klavierkonzert hervor. Wie schwierig dieser Wiener Verein ist, musste die Flötistin Silvia Careddu erfahren, der Anfang des Jahres mitgeteilt wurde, dass sie die zweijährige Probezeit nicht bestehen würde – um eine Stimme hatte sie das Votum des Orchesters verfehlt. Da ihr Nachfolger vom NDR-Elbphilharmonie-Orchester noch nicht zur Verfügung stand, bat das Orchester sie kühn, bei Haitinks letzten Konzerten auszuhelfen. Carredu sagte generös zu: und zollte dem Künstler Haitink Tribut mit delikaten vogelartigen Rufen im ersten Satz der Siebten, getränkt in wehe Melancholie.
Auf gute Weise zeigt dieser Luzerner Abschiedsabend – obwohl nicht einmal eine Sternstunde – in Essenz, was den Dirigenten Haitink ausmacht, ausgemacht hat, wie man nun sagen muss. Für das Nebulöse ist er nicht zuständig, er bevorzugt einen klaren Orchestersatz, besitzt Sinn für klangliche Rundung. Eine stete Klage führt er gegen die zunehmenden Lautstärken. Brutale Blechpanzer bei Bruckners Partituren bleiben bei ihm im Depot. Das ist die technische Seite, die andere ist eine Charaktereigenschaft, die ihn bei den Orchestern so beliebt macht, eine auf Kooperation setzende Arbeit. „Dirigieren ist nicht Luftsortieren. Dirigieren heißt: musizieren, kommunizieren – mit Musikern, mit Menschen.“ Das ist so ein typischer Haitink-Satz, nachzulesen in dem gerade erschienenen Band mit Gesprächen und Essays von Peter Hagmann und Erich Singer (Bernard Haitink – „Dirigieren ist ein Rätsel“, Bärenreiter/Henschel, 183 Seiten, 24,95 Euro).
In diesem Sinne gestaltet sich das Zusammenwirken von Emanuel Ax – er spielt an Stelle von Murray Perahia, der zwei Wochen vor den Konzerten wegen Krankheit absagen musste – und Haitink im ersten Konzertteil bei Beethovens viertem Klavierkonzert beinahe ideal. Überraschenderweise arpeggiert Ax den ersten G-Dur-Akkord, eine romantische, allerdings heute wenig verbreitete, Aufführungspraxis, die freilich durch eine entsprechend bezeichnete Notenausgabe von 1846 des Beethovenschülers Carl Czerny gedeckt ist. Haitink antwortet mit einem Hauch von Streichersatz, der durch die Wiener Streichersüße einen sphärischen Schimmer erhält und einen den Atem anhalten lässt. Haitink betont in der Orchesterintroduktion die Holzbläser und bittet mit einem Blick immer wieder die Celli, mit ihrer Stimme den Gegendruck zu den Violinen herzustellen, der die vorangehende Bewegung sichert. Ax ist dem Solopart mit artikulatorischer Akkuratesse, schönen Phrasen ein ehrlicher Anwalt, mit seinem geklöppeltem Ton wirkt das (gerade in der Kadenz im ersten Satz) allerdings reichlich trocken neben dem saftigen Schmelz der Wiener: ein Klangfarbenmagier ist der Amerikaner nie gewesen.
Hatten die Promenader Haitink bei seinem Londoner Konzert am vorangegangenen Dienstag gleich beim ersten Betreten des Podiums mit Ovationen begrüßt, hält sich das Publikum in Luzern zunächst mit ostentativen Beifallsbezeugungen zurück. Ein Besucher möchte etwas Stimmung machen nach der Pause und ruft ein kräftiges Bravo, bevor Haitink den Taktstock zu Anton Bruckners Sinfonie hebt. Haitink wählt generell zügige, aber extrem atmende Tempi. Das Kopfthema hat sinnende Poesie, aber eine Richtung auf Weiterführendes. Das wird nicht Haitinks Bruckner, sondern Bruckners Bruckner, so scheint es: Und wenn eine individuelle Färbung – oder „Interpretation“ – zum Tragen kommt, dann die des Orchesters. Die Wiener Philharmoniker beeindrucken mit überlegener Satztechnik, Ensemblekultur, dynamischer Flexibilität (gerade in unteren Graden – laut kann jeder) und weichem Tonansatz. Haitink unterstützt die Verschmelzungskunst, indem er die beiden Violinenchöre nebeneinander platziert – öfters als antiphonal sind ihre Stimmen in dieser Partitur in Oktaven oder im Unisono gesetzt, als dass die deutsche Orchesteraufstellung produktiv wäre. Rechts außen die Bratschen (sehr sinnvoll bei markanten Gegenstimmen-Momenten wie nach Ziffer 120 im Finale!), mittig die Celli: so bilden die Streicher das Klangzentrum, zu dem Holz- und Blechbläser überwiegend mehr als Farbe, denn als zeichnende Motivzulieferer auftreten. So hält Haitink alles im Fluss, jeder ist Takt erfüllt, gestaltet – aus der Einzelgestalt ergibt sich die Großform, die Architektur. Die Qualität jedes großen Dirigenten stellt sich hier ein: die nur punktuell wahrzunehmenden Ereignisfülle der Zeitkunst Musik in einen Eindruck von überspannender Einheitlichkeit zu überführen, so dass eine mehr als einstündige Sinfonie als Entität verstanden wird.
Für den formbewussten Dirigenten keine Frage: dass im Adagio der suspendierende Höhepunkt den (umstrittenen) Beckenschlag benötigt – umso inniger entfaltet sich der Trauerchoral der Tenor- und Basstuben in der Coda, den Bruckner nach der Nachricht von Richard Wagners Tod einfügte. Das Wiener Blech agiert in Höchstform. Mit gleicher Gestaltungskraft lassen Haitink und das wunderbare Orchester danach vergessen, dass Scherzo und Finale kompositorisch nicht ganz auf der Höhe der ersten Sätze stehen. Eindrücklich gelingen in der Durchführung des Finales die archaischen, zugleich modern wirkenden Stauchungen der Blechbläser nach Buchstabe Q. Ein denkwürdiger Abend, unsentimental, ganz nach Art des bescheidenen Dirigenten, den, nachdem der Primgeiger Daniel Froschauer ihn beim Auf- und Abtritt fürsorglich begleitet hatte, am Schluss seine Frau Patricia zwei Mal am Arm aufs Podium führte zum Applaus des Publikums, das sich erhoben hatte. Keine Blumen, keine Ansprachen, so war es der Wunsch von Bernard Haitink gewesen. Am Ende wieder ein kurzer Wink aus dem Handgelenk in Richtung Orchester: das war’s.