„Unsere Stadt bietet Ihnen ein facettenreiches Zuhause mit lebendiger Kulturszene“, behauptet die offizielle Homepage von Dortmund – und auch ein kritischer Blick muss zugeben: Das stimmt. Besonders im Kontext Kultur, besonders im Kontext Musik und Inklusion. Im Stadttheater, im Jazzclub domicil, im Rathaus, im Kinder- und Jugendtheater, im Theater im Depot, in der Musikschule, in Kultursalons, in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung, an der TU Dortmund – überall tut sich was auch in Sachen Inklusion.
Besondere und besonders gute Momente
Geschuldet ist das seit Jahren vor allem dem Verein gesamtkunstwerk e.V., der seit nunmehr Jahrzehnten mit Angelika Neuse und Claudia Schmidt Menschen mit Behinderung in den Bereichen Musik, Kunst, Theater und Tanz fördert. Ganz besonders: In Zusammenarbeit mit der Integrationsfördergesellschaft der Werkstatt Gottessegen findet seit ein paar Jahren eine bundesweit einmalige Ausbildung in Teilzeit für Musikerinnen und Musiker mit Beeinträchtigungen statt – „Tonstudio 13“. Begabte Menschen mit Behinderung erhalten hier eine Ausbildung, die sie für die Mitarbeit in Profi-Kontexten und öffentliche Auftritte qualifiziert (mehr unter gesamtkunstwerk-ev.de).
Seit 2008 gibt es nun in zweijährigem Rhythmus das DIS#, das Dortmunder Inklusive Soundfestival. Vor 16 Jahren begann DIS# als Konzert im Jazzclub domicil – seinerzeit eine Sensation, denn in einem so bekannten Jazzclub darf man nicht einfach so auf die Bühne. Heute ist DIS# eine selbstverständliche Veranstaltungsreihe mit Musik, Tanz, Theater und Malerei – diesmal in mehreren Orten. Neben Dortmund sind auch Bochum, Essen und Wuppertal dabei.
Inklusion muss auf die Bühne. Gerne zusammen mit Promis. So war es auch am 6. September in diesem Jahr in Dortmund: Thomas D & The KBCS waren da, der Poetry Slammer Sebastian 23 und das Tanzorchester Paschulke. Den Abend moderierte Tan Caglar. Das alters- und auch sonst durchgemischte Publikum im ziemlich großen Freizeitzentrum West erlebte mit dem Tanzorchester Paschulke einen denkbar fulminanten Auftakt: Rund um die imaginäre Figur des Ruhrpott-Hausmeisters Paschulke ranken sich nicht nur tanzende Putzlappen, sondern auch tolle Bläsersätze mit Altsax, Trompete und Posaune, ergänzt durch Akkordeon, Gitarre, Bass und Drums. Das Ganze nennt sich Ruhrpott-Balkan und ist ein witziger und hoch lebendiger Stilmix aus Funk, Jazz und eben Balkan. Wer wissen will, wie gut das klingt: Tanzorchester Paschulke googeln. Leitung und Arrangements: Claudia Schmidt. Getoppt wird dieses Ensemble durch ein bis zwei Sänger, immer dabei Carsten Schnathorst aus Hamburg. Einfach ein Typ: nicht sehend, stimmvirtuos, mit attestiertem Autismus-Syndrom, musikalisch hochbegabt. Der Leiter des Chores sounddrops, in dem Schnathorst in Hamburg singt, braucht keine Stimmgabel, er hat ja Carsten dabei. Bayerisch sprechende Menschen begrüßt Schnathorst übrigens mit dem Andachtsjodler. Mit der Unterstimme natürlich, wenn die Begrüßten mit der Oberstimme dabei sind. Das Dortmunder Foyer ist amüsiert – und platt. Der wiederum fulminante Abschluss des Abends war eine gemeinsame Performance von Carsten Schnathorst, Thomas D und Mike Herget, drei sehr Verschiedene, die sich mit dem bekannten „Rückenwind“ von und mit Thomas D nahtlos ineinander rappten. Das ist Inklusion, die man nicht mehr als solche labeln muss. Das sind einfach sehr besondere und besonders gute Momente.
Kammermusikalischer geht es eine Woche später in der Musikschule Bochum zu: Die Flure einer Musikschule sind für Bilderausstellungen wie gemacht – nur so ein Tipp für alle! Die Eröffnung der Ausstellung „Ansichten“ mit Werken von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen war natürlich musikalisch gestaltet – von dem inklusiven Ensemble Nachtschattenblau, das seit 2022 klein, fein, lyrisch und dreistimmig Popsongs und Singer/Songwriter covert. Schön und einfach angenehm und passend zu den Bildern zwischen Abstraktion und Abbildung von Realitäten – Ansichtssachen eben!
Dreistimmig soulig, groovig und jazzig zeigt sich Inklusion in der Dortmunder Museumsnacht am 21. September dann wieder im domicil: Collective One & Is it Soul füllen den Saal bis in die Empore. Entstanden aus dem Projekt Tonstudio 13 (siehe oben), ist der Weg in die Professionalität vorgezeichnet. Zum Beispiel mit dem Song Colors von den Black Pumas. Jegliche Behinderung löst sich in der Musik auf – das Publikum weiß es zu schätzen.
Spektakulär zwischen ganz laut und ganz leise wird es am 12.10.2024 im Theater im Depot, wenn das MusikTanzTheater POUR ENSEMBLE aus Wuppertal die Produktion „Jakob von Gunten“ präsentiert. Erschienen 1909, hat der Tagebuch-Roman von Robert Walser jetzt die zehnte Bearbeitung für die Bühne erlebt – erstmals nun interdisziplinär und inklusiv. Die Figur des Jakob von Gunten stellen alle – mixed abled – Ensemblemitglieder in identischen Kostümen und Bewegungen dar: Wir alle sind Jakob von Gunten. Und bereiten uns konsequent-heiter auf ein Leben in dienender Position und Bedeutungslosigkeit vor: „Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.“ Den begeisterten Ausruf „Ich entwickle mich nicht“ begleitet ein kollektiv-verrücktes Schuhplatteln, der finale Satz kommt von Tim Valerian Alberti ruhig und überzeugt: „Klein sein – und bleiben!“ Schleudert ein professioneller Schauspieler ohne sichtbare Behinderung diesen Satz ins Publikum, ist die Kritik an einer totalitären Gesellschaft offensichtlich, die in der Masse nur Dauerhaft-Kleine gebrauchen kann. Tut dies ein Schauspieler mit Downsyndrom, taucht hinter diesem Ausruf das ganze System einer exkludierenden autoritären Gesellschaft auf, die zu ihrer Bestätigung kleine, dankbare und zufriedene Behinderte braucht… Ein in jeder Hinsicht hoch eindrücklicher Abend.
Anfang November kommt in Bochum auf wiederum anderer Ebene zusammen, was zusammengehört. Dann trifft Inklusion mit dem Ensemble piano plus aus Bochum (Leitung: Claudia Schmidt) im großen Konzertsaal des Anneliese-Brost-Zentrums auf Interkulturalität mit dem Nefes Chor & Ensemble aus Duisburg/Essen (Leitung: Enver Yalçın Özdiker). Inklusion kann ohne Blick auf die verschiedenen kulturellen Milieus gar nicht funktionieren, Inklusion kann ohne Begegnung der Kulturen, kann ohne Zusammenspiel nicht gestaltet werden. Und genau so geht es. Sehr gut.
In Essen wird es noch die Tanzproduktion Stairways to Heaven? geben, die sich mit Funktion und Symbolik von Treppen auseinandersetzt und das oben schon hochgelobte Tanzorchester Paschulke wird in Wuppertal das DIS# 2024 beschließen. DIS# in Do, ohnehin unverzichtbar, diesmal in DO, BO, E und W. Mehr über alles und auch Zukunftspläne unter https://www.dis-festival.com/
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