Das Wesen der Dinge pflegt sich zu verbergen, stellte der Vorsokratiker Heraklit fest. Wer sich also nicht auf die Suche begibt, der manövriert stets an der Essenz vorbei. Davor versuchte Pierre Boulez auch dieses Jahr rund 130 junge Musiker und Dirigenten zu bewahren, indem er sie der Kunst, das Wesentliche aufzuspüren und zu benennen, wieder um einiges näher brachte.
Spielen können sie alle, die Teilnehmer der Lucerne Festival Academy 2011. Doch wie soll der Hörer das Wesen eines neuen Werks erkennen, sei es auch noch so schön und präzis gespielt, wenn es dem Musiker selber nicht ganz bewusst ist? Diese Arbeit mag vielleicht unbequem sein, aber der alte Herr lässt da nicht locker. Auch nicht, wenn es bedeutet, einen Dirigierschüler vor versammeltem Orchester und Publikum schonungslos mit seinem Irrweg zu konfrontieren. Von Altersmilde keine Spur. Immer wieder heißt es im Meisterkurs Dirigieren bei der Arbeit an Schönbergs Variationen für Orchester op. 31: „Nein. Das ist nicht die Essenz, das ist die Analyse. Was ist die Essenz?“ Weder das Gefühl noch die formale Notentextanalyse allein weisen den Weg. Es genügt nicht, Wendungen in der Partitur zu identifizieren, ohne zu erforschen, warum sie da stehen. Und die Akademisten danken es ihm – dem Feuereifer nach zu urteilen, mit dem sie die unter dem Meister einstudierten Werke spielen. Denn dies ist ihm wichtig: Nicht nur der Dirigent, sondern jeder Musiker trägt diese Verantwortung.
Diese Wichtigkeit des Einzelnen kam in Boulez’ großem Orchesterwerk „Pli selon pli – Portrait de Mallarmé“, das dieses Jahr im Zentrum stand, besonders zum Tragen: Trotz großer Orchesterbesetzung exponiert er im Verlauf des Stücks verschiedene atypische Einzelkonstellationen, wie Horn und Stimme, Kontrabass und Perkussion, die den Tutti- und Sologedanken gänzlich verschwinden lassen. Auch die Stimme der kanadischen Sängerin Barbara Hannigan wob sich mühelos organisch, einem Instrument gleich, in das Klanggeflecht ein, um sich hier und da zu einem traumartigen Alleingang herauszulösen. Hannigans reine, unaffektierte Stimme, ihr vollkommenes Aufgehen im Werk ohne jeden Sänger-Sondergestus ist bewegend. Man hatte in diesem Konzert das seltene, heilsame Gefühl, dass einfach alles stimme.
Gewaltiger Knall
Das vom Komponisten in der Konzerteinführung als Sorgenkind bezeichnete Werk beschäftigte ihn durch mehrere Jahrzehnte seines Lebens. Und so scheint es gleichsam eine Lebensspanne zu umfassen: Ein unvermittelter, gewaltiger Knall des gesamten Orchesters eröffnet und beschließt das dazwischen sich entfaltende Werk wie ein Leben zwischen Geburt und Tod. Die „Ecksätze“ tragen dementsprechend die Titel „Don“ – Geschenk – und „Tombeau“ – Grab. Die Aufführung von „Pli selon pli“ war eine einmalige und großartige Erfahrung, die noch lange in einem weiterlebt, als wäre der Schlussknall wieder der Anfang. Nicht umsonst bezieht sich der Komponist mit dieser Struktur auf dasselbe Phänomen in James Joyces „Ulysses“. Glücklicherweise war dies nicht die letzte Aufführung des Werks, denn Boulez und die Musiker der Lucerne Festival Academy gehen nun unmittelbar mit diesem Werk auf Europa-Tour – erstmals in ihrer Geschichte. Es gab in diesem Jahr überhaupt einige Neuheiten bei der Lucerne Festival Academy zu verzeichnen, angefangen mit einem Wechsel in der Gesamtleitung, die seit diesem Jahr in den Händen von Dominik Deuber liegt. Erstmals teilte sich Pierre Boulez das Pult in den großen Sinfoniekonzerten mit zwei anderen Dirigenten, die ebenfalls als Leuchttürme der Moderne gelten: David Robertson und Peter Eötvös. Dies war für das Publikum und gewiss auch für die Musiker schon insofern eine spannende Situation, als sich die verschiedenen Dirigiersprachen auf diese Weise in unmittelbarem Kontrast erfahren ließen. Wie in seiner Lehre, so liegt Boulez auch als Dirigent offenbar formlose Expressivität ebenso wie „Micromanaging“ fern, was an seinem souveränen Stil deutlich erkennbar wird: ganz gezielt setzt er Ankerpunkte, markiert das Wesentliche in Schönbergs Variationen für Orchester und legt, was dazwischen liegt, vertrauensvoll in die Hände seiner gut präparierten jungen Musiker. Auf eine ganz andere, nicht minder faszinierende Weise kommuniziert wiederum Peter Eötvös mit dem Orchester. „Photoptosis“ von Bernd Alois Zimmermann und „Punkte“ von Stockhausen – Beides Werke mit einem starken Bezug zur bildenden Kunst – dirigiert er, als wären es Bilder und Figuren, die er im Moment entstehen lässt, sodass die Klangflächen in „Photoptosis“ tatsächlich in ihrer Breite als solche spürbar werden und der Hörer das Entstehen von Figuren direkt in „Punkten“ verfolgen kann. Eötvös hält stets alle Fäden in der Hand, bedient sie mit Sicherheit und höchster Konzentration und erzeugt so eine energetisch dichte Dauerspannung, eine Musik, an der man sich ganz nahe glaubt.
Gestus und Struktur
Bilder als Partitur zu lesen, wie es Charlotte Hugs Orchesterwerk „Nachtplasmen“ verlangt, war wohl eine der größten neuen Herausforderungen für die Akademisten in diesem Jahr. Dabei handelt es sich weder um eine graphische Notenpartitur, noch um Improvisation. Es kommt dem Eintauchen in ein anderes Denksystem gleich, das zwischen hören und sehen keine Grenzen zieht: „Nachtplasmen“ ist Teil eines künstlerischen Gesamtkomplexes, den die Schweizer Bratschistin, Komponistin, Zeichnerin und diesjährige „artiste étoile“ im Rahmen des Festivalthemas „Nacht“ entwickelt hat, und baut auf abstrakten Graphitzeichnungen auf - die Künstlerin nennt sie „Son-Icons“, also Klangzeichnungen. Sie stellen Gestus und Struktur imaginierter Klänge dar, die Charlotte Hug in Einzelcoachings die Academy-Studenten zu entziffern lehrte und dabei gar nicht so leicht zufriedenzustellen war. Der Klang sollte nämlich eine genaue Umsetzung der Zeichnung sein, nicht bloß visuell inspirierte Improvisation. So wurden im Vorfeld erarbeitete Klangbausteine im Konzert in dreiteiliger Dramaturgie zusammengebaut, teils nach Hugs Dirigat, teils nach einer Bildpartitur, die auf eine himmelszeltartige Leinwand, für Orchester und Publikum sichtbar, in den dunklen Raum projiziert wurde. Für die Akademisten keine einfache Aufgabe, doch zeigten sie sich, trotz vereinzelter Skepsis, auch diesem ungewohnten Ansatz gegenüber offen und initiativ, sodass ein facettenreiches Werk mit geheimnisvollem, fast archaischem Faszinationswert entstand.
Optimationsgeist
Einer der großen Vorzüge der Academy scheint ihr ständig aktiver Optimationsgeist zu sein. Letztes Jahr kam die Reihe „Open Stage“ zum Akademie-Programm dazu, Spontanveranstaltungen, bei denen Studierende in kleinen Formationen Werke (auch eigene) präsentieren, die sie mit ihren Coaches des Ensemble intercontemporain oder in Eigenregie einstudiert haben. Auch dieses Jahr zeichneten sich die Veranstaltungen nicht zuletzt durch den Charme der Eigenmoderation aus. Offensichtlich stecken in einigen dieser Persönlichkeiten nicht nur musikalisches Talent, sondern auch Witz, Eloquenz und andere wertvolle Eigenschaften, die dabei zur Geltung kamen. Noch mehr von der geschätzten Automomie kam nun dieses Jahr in Gestalt der „Spotlights“ dazu. Ehemalige Akademisten präsentierten eigene Projekte im Zeichen der Grenzüberschreitung: kreatives Mischen der Genres von Hip-Hop über Ska bis hin zu sogenannten „found sounds“. Im Gespräch zeigte sich, dass die „Spotlights“ auf große Resonanz stoßen, vor allem bei den jüngeren Akademisten, die sich noch in Ausbildung befinden und sich natürlich fragen, wo ihr Platz im Musikleben sein wird, wenn sie einmal nach vollendetem Studium in die krude Realität ausgespuckt werden. Die „Spotlights“ seien Inspiration für eigene Ideen und Ermutigung, eigeninitiativ Projekte zu entwickeln, schwärmte da ein junger Geiger.
Konstante Weiterentwicklungen sind Pierre Boulez, dem künstlerischen Begründer der Academy, schon seit Anbeginn ein Hauptanliegen. Routine lehnt er erwartungsgemäß genauso ab wie eine Dependenz der Institution von seiner Person – so sehr sich dieser Gedanke auch immer wieder aufdrängt. Gerade diese uneitle Generosität, geistige Flexibilität und Weitsicht machen ihn auch in diesem Jahr umso mehr zum Fixstern der Academy. Denn – um es erneut mit Heraklit zu sagen – nichts ist so beständig wie der Wandel.