Vor wenigen Tagen ging diese Meldung durch die Presse: Der im ukrainischen Cherson lebende und wirkende Dirigent Juriy Kerpatenko war von der russischen Besatzungsmacht aufgefordert worden, zum Weltmusiktag am 1. Oktober ein Galakonzert zu dirigieren. Kerpatenko weigerte sich und wurde daraufhin in seiner Wohnung von russischen Soldaten erschossen. Durch diese Nachricht erschüttert beschloss die Berliner Universität der Künste (UdK), ihr alljährliches „Konzert für die Nationen“ in diesem Jahr als Friedenskonzert dem toten Dirigenten zu widmen.
An dem gutbesuchten Konzert in der Berliner Philharmonie beteiligten sich der Kammerchor und das Symphonieorchester der Universität mit einem Programm, das Schmerz und leise Hoffnung zum Ausdruck brachte. Es begann mit dem „Prayer for Ukraine“ des inzwischen in Berlin lebenden ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov. Seine Bitte um ein friedliches Leben wirkte gerade wegen ihrer musikalischen Einfachheit so eindrücklich, zumal der von Maike Bühle geleitete und stark besetzte Kammerchor die weichen Klänge äußerst kultiviert sang. Ohne Pause folgten die „Kindertotenlieder“, mit denen Gustav Mahler den Verlust einer Tochter vorausgeahnt hatte. Die aus St. Petersburg stammende und heute an der Staatsoper Berlin wirkende Mezzosopranistin Marina Prudenskaya setzte sich mit ihrer warmen und großen Stimme mühelos gegen das Orchester durch. Ihre Wiedergabe der Rückert-Texte wirkte jedoch starr und statuarisch, so dass der Ausdruck der Klage kaum je über die Rampe kam. Viel expressiver spielte das Orchester, nicht zuletzt die Holzbläser. Stärkere Dramatik strahlte die Sängerin erst im letzten Lied („In diesem Wetter, in diesem Braus“) aus.
Die zweite Programmhälfte hätte mit der Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ beginnen sollen, mit der Rudolf Mauersberger im August 1945 mit Worten aus den Klageliedern des Jeremias die Zerstörung Dresdens beklagte. Ein Einlegezettel im Programmheft informierte aber lapidar darüber, dass der Kammerchor nicht diese Motette, sondern die Komposition „Remember not, Lord, our offences“ von Henry Purcell singen würde. Eine Verlegenheitslösung, denn der Chor hatte dieses Stück ohnehin für ein Konzert am nächsten Abend vorbereitet. Warum aber der Verzicht auf Mauersberger? Im Programmheft las man, dieser Komponist habe als NSDAP-Mitglied eine „problematische Biografie“. Dabei hatte er sich bei seinem Dresdner Kreuzchor über Aufführungsverbote hinweggesetzt, indem er Werke jüdischer und verfemter Komponisten einstudierte, und seine Sänger aufgefordert, die braunen Uniformen auszuziehen - ein Beispiel für Zivilcourage gegenüber einer Diktatur, wie sie in noch höherem Maße Jurij Kerpatenko gezeigt hatte. Es ist deshalb unverständlich und bedauerlich, dass die Mauersberger-Motette nicht erklang.
Die Achte von Schostakowitsch
Das Hauptwerk des Abends war dann die Symphonie Nr. 8 c-Moll op. 65, die Dmitri Schostakowitsch 1943 mitten im Weltkrieg komponiert hatte. Es war das Jahr der Schlacht von Stalingrad, welche die Wende brachte. Man hatte vom Komponisten damals ein ähnlich aufrüttelndes Werk wie die 7. Symphonie, die „Leningrader“, erwartet, und war enttäuscht, dass im Finale Siegesfanfaren fehlten. Das Werk wurde deshalb in der Sowjetunion nur selten gespielt und gehört bis heute zu den Stiefkindern des Konzertrepertoires. Anders als bei seiner „Leningrader“ Symphonie verzichtete Schostakowitsch hier auf programmatische Deutungen. Er erklärte später lediglich, der Protagonist sei „ein Mensch, betäubt vom gigantischen Hammer des Krieges“.
Es mehrten sich deshalb die Versuche, das Werk autobiographisch zu deuten. Als Vladimir Ashkenazy die Symphonie 2009 zum Musikfest Berlin dirigierte, erklärte er, der Komponist habe „in der Achten wirklich sein Herz geöffnet und ausgeschüttet“. Die Musik stelle die Frage, was es heißt, in diesem Land nicht nur zu überleben, sondern zu leben. „Es war ja ein Sieg der Verzweiflung, bei so vielen Menschen, die umgekommen waren aufgrund der Dummheit Stalins und der sowjetischen Regierung.“ Auch Kirill Petrenko, der kürzlich während des Lockdowns die Achte ohne Publikum mit den Philharmonikern für die Digital Concert Hall aufnahm, erklärte, sie stelle die persönliche Tragik des Komponisten in einer schwierigen Zeit dar. Vor allem aber sei es ein Werk, das Fragen stellt.
Steven Sloane, der diese Symphonie jetzt in der Philharmonie zur Aufführung brachte, hat sich dazu nicht geäußert. Aber sein Hochschulkollege Harry Curtis schrieb im Programmheft, aus jeder Note sei die Bitterkeit des Komponisten gegenüber dem kriegstreibenden Stalin-Regime herauszuhören. „Ein Gefühl, das dieser Tage sicherlich viele Menschen empfinden.“ Der Vergleich Putins mit Stalin ist problematisch, da Stalin nicht zuletzt sein Land verteidigte. Parallelen zur Gegenwart sind aber die Angst der einzelnen Menschen angesichts eines verbrecherischen Krieges und die Unsicherheit über die Zukunftsperspektiven.
Mit der Wiedergabe dieses 70-minütigen Werks gelang dem aus Studierenden der Fakultät Musik bestehenden Symphonie-Orchester der UdK eine höchst respektable Leistung. Bislang hatte es regelmäßig im November beim „Konzert für die Nationen“ unter der Schirmherrschaft einer in Berlin ansässigen Botschaft seine Internationalität gefeiert. Mit dem Werk eines Russen äußerte es jetzt seine Solidarität mit der Ukraine.
In diesem Orchester dominieren bei den Streichinstrumenten die Frauen, bei den Bläsern die Männer, wobei insgesamt ein hoher Anteil von Asiaten auffällt. Wie intensiv sich die jungen Musiker und Musikerinnen unter der Leitung von Steven Sloane mit dieser Schostakowitsch-Symphonie auseinandergesetzt hatten, bemerkte man schon an der rhythmischen Schärfe des Beginns. In den tiefen Kontrabässen und Celli hörte man hier zum ersten Mal die markante Wechselnote, die dann das ganze Werk durchzieht. Sie erklang auch im lyrischen Seitenthema, das, von pochenden Akkorden begleitet, die ersten Violinen spielten. Der Fünfvierteltakt sorgte hier für innere Unruhe. Das drängende Sekundpendel steigerte sich in diesem Satz zum Tutti, zu einem mächtigen Marschrhythmus als Ausdruck militärischer Gewalt. Dann aber Stille und als Stimme der Menschlichkeit ein langes Englischhorn-Solo, hervorragend gespielt von dem jungen Brasilianer Franklin de Sousa.
Der zweite Satz, kräftig und mit grellen Piccoloflöten, wirkte grimmig und böse, das nachfolgende Allegro in seiner tokkatenhaften Ostinato-Bewegung maschinenhaft und unpersönlich. Dabei war die rhythmische Präzision in allen Orchestergruppen zu bewundern. Nach einer sehr intensiven Steigerung ins Fortissimo, nach schweren Paukenschlägen und einem großen Unisono verlangsamte sich die Bewegung im bruchlos folgenden Largo zu einer leisen und fahlen Klagemusik. Umso überraschender wirkte dann die spielerische C-Dur-Leichtigkeit des letzten Satzes, der mit solistischen Fagotten begann. Schon bald aber erstarrte diese Heiterkeit und erhielt im Blech bedrohliche Züge. Dann wieder ein Schnitt zum hellen Dur, beginnend mit einem Cellosolo. Der Friede wurde hier nicht triumphal als Sieg erreicht, sondern als eine ferne Vision, die leise verklang. Danach herrschte in der Philharmonie zunächst gebannte Stille, bis starker Beifall ausbrach. Er galt nicht nur dem Orchester, sondern auch dem Dirigenten Steven Sloane. Er übergab die ihm überreichten Blumen dem Englischhornspieler, der an diesem Abend eine besondere Glanzleistung vollbracht hatte.
Als Schostakowitschs Achte im April 1944 zum ersten Mal im Westen erklang – in New York unter Leitung von Artur Rodzinski –, wurde sie über 134 Radiostationen in den USA ausgestrahlt. Über 25 Millionen Menschen sollen damals dieses Werk gehört haben, voll Sympathie für den Kampf der Roten Armee gegen Hitler-Deutschland. Heute bringt die gleiche Symphonie unser Mitgefühl mit den Opfern der Roten Armee zum Ausdruck. Glücklicherweise wurde während des Konzerts auf Ansprachen verzichtet. Das Grußwort des Universitätspräsidenten las man im kostenlos verteilten Programmheft. Es war richtig, an diesem Tag, dem Totensonntag, ein Werk zu wählen, welches von Opfern und nicht von einer Siegesperspektive spricht. Der Fortgang des Krieges ist weiter ungewiss. Mehr wissen wir über die Zahl der Opfer. Laut Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte hat der Russland-Ukraine-Krieg bis zum 13. November 2022 mindestens 6.557 Todesopfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung gefordert, darunter 408 Kinder. Einer der toten Zivilisten war Juriy Kerpatenko.