Sir John Eliot Gardiners Trias zum 450. Geburtstag Claudio Monteverdis ist nach einzelnen und kompletten Vorstellungen beim Bachfest, in Italien, Frankreich und den USA beim Musikfest Berlin in der Philharmonie angekommen. Vielleicht hätte der Applaus nach „L’incononazione di Poppea“ auf die in schlichten Kostümen durchinszenierte Aufführung noch eine Spur enthusiastischer ausfallen können. Aber ein Triumph war es nach den nur durch eine kurze Pause unterbrochenen 200 Minuten dennoch.
Es gab in den letzten Jahren sicher dramatisch bewegtere und geschliffenere, auch in der Klangformung kontrastreich mehr gemeißelte und schärfere Ausdeutungen der Opern Monteverdis. Doch eine derartige Profilierungssucht hat der Altmeister der informierten Aufführungspraxis längst nicht mehr nötig. Dafür macht er aus der „opera musicale“ (dem musikalischen Werk) genau zu dem, als dessen Erfinder Monteverdi nicht ganz korrekt gerühmt wird: Zu einem echten Musikdrama, in dem Ariosi, Rezitative und geschlossene Formen in pausenloser Entwicklung aufeinander folgen. Statt eines exhibitionistischen Ausstellens von Instrumentengruppen und Soli mit den üppig besetzten English Baroque Soloists schreitet die Handlung in einem Mischklang von betörendem Wohlklang voran. Das liegt vor allem an den im Klangbild fast immer dominierenden Zupfinstrumenten, hier tatsächlich vier Chitarroni.
So schön klingt das, dass der Aufstieg der treulosen, karrieretüchtigen Poppea an die Seite des Kaisers Nero kaum musikalische Schärfen hat und auf der Ebene der musikalischen Interpretation dem amoralischen Agieren nichts widerspricht. Mehr noch: Im musikalischen Fluss gibt es nicht einmal vom sopranigen Counter Kangrmin Justin Kim unter seinem stellenweise scharfen Stimmsitz deutende Schärfen. Je weiter der Abend fortschreitet, umso signifikanter wird diese Fehlen von kritischer Kommentierung im Klangkonzept: Gardiners Interpretation feiert den Hedonismus der Liebe mit voller Breite. Noch klarer als in den geebneten statt flirrenden Duettszenen Poppeas mit Nero wird das, wenn im Zweiergelage nach Senecas Selbstmord sich Nerones und Lucianos (Zachary Wilder) Lippen durch Zufall flüchtig berühren und die von Sir John Eliot Gardiner mit Elsa Raake immer affektkonforme, so gut wie nie gebrochene Regie ausgerechnet da ein Innehalten und introvertiertes Räsonieren über die Liebe vorsieht. Es scheint, als ereile nach der Spirale von Intrige, Rache, Mord und Selbstmord die verhängte Verbannung Ottavia zu Recht.
Es wird nur gesungen, ganz wenig deklamiert. Einziges Schärfungsmittel ist bei allen eine deutliche Diktion, die nie in Konflikt mit der Phrasierung kommt. Schwankungen der meist recht breiten Tempi machen die Stimmungswechsel deutlich.
Ein Beispiel: Die sonst häufig im Parlando oder gar expressiv gestoßenen oder geröhrten Ah-Laute am Beginn von Ottavias „Addio Roma“ nimmt Marianna Pizzolato gerundet auf dem Atem im Mezzopiano, dadurch leicht übertönt von den Saiten- und Zupfinstrumenten der English Baroque Soloists. Auch die unnötig als erkältet angekündigte Hana Blažiková nimmt ihre Verführungsattacken im zurückgenommenen Legato und dynamisch leicht unter den Instrumenten, noch mehr verlangsamt. Hier setzt die große Gestaltungskunst Gardiners an. An keiner Stelle kommen die lyrischen Stimmen ob der orchestralen Fülle ins Straucheln. Alles ist im genau richtigen Puls der Proportionen und Satzinhalte, wird zum Faszinosum.
Die Strophengebilde der Partitur, etwa im Duett des warmtimbrierten und dabei schlanken Countertenors Carlo Vistali als Ottone mit Poppea sind kaum mehr als solche kenntlich, die mehrstrophige Kanzone beider wird genauso dramatischen Szene, deren Form man als offen wahrnimmt, wie einige Arien und Monologe. Der Abend schreitet mit genau dosierter Energie fort. Diese Auslegung wird von den Solisten, vor allem dem mit starker Kantabilität agierenden Seneca von Gianluca Buratto, mit großer vom Dirigenten verordneten Freiheit getragen. Das Kraftfeld offenbart sich am allerprächtigsten in den sich durch herausragende Qualität und Vokalstaffelung auszeichnenden wenigen männlichen Chören.
Auch in Gardiners Auslegung ist es erstaunlich, dass die Ottone liebende Drusilla trotz des farbenreichen Timbres von Anna Dennis gemessen an der dramaturgischen Wertigkeit des Parts wieder einmal hinter die anderen Hauptfiguren rutscht. Selbst ein souveräner und dramatisch mitdenkender Gesamtleiter kann an diesem Fakt kaum etwas ändern. Und der mit vielleicht einer Spur zu stiller Einfalt gestaltete Faltenwurf der Kostüme von Patricia Hofstade vom Atelier Paradis auch nicht. Vielleicht hätte da eine Brise von fabulierender Verrücktheit noch etwas in der Wahrnehmung verschoben. Doch auch wenn die Hölle in dieser Oper siegt: Der musikalische Himmel stand in der Berliner Philharmonie an diesem Abend weit offen.