Keine Musik ist voraussetzungs- und kontextlos. Jede ist geprägt durch einen historischen, kulturellen und sozialen Ort. Alle Musik steht in Erfahrungs-, Beziehungs- und Sinnzusammenhängen. Gemeinsam mit den materialen, strukturellen und formalen Eigenschaften eines Stücks tragen diese Zusammenhänge zu dessen Wirkung und Gehalt bei. Das klingt abstrakt, ist im Einzelfall aber oft recht konkret, selbst wenn sich die Kontexte zuweilen erst durch eingehende Analysen der Faktur, Quellen, Skizzen und Entstehungsbedingungen eines Werks erschließen. Manchmal liegen konkrete Bezugnahmen jedoch auch offen zu Tage und sind sogar Auslöser und Zentrum eines Stücks.
Das ist beispielsweise bei relationaler Musik der Fall, also bei den verschiedenen Spielarten von Musik über Musik, Musik mit Musik, Musik in Musik, Musik aus Musik. Die hier angewandten Techniken sind Allusion, Variation, Parodie, Zitat, Collage, Montage sowie Sample, Mash-up, Remix, Cover, Remake. In verschiedenen Abstufungen wird dabei die Eigengesetzlichkeit einer Komposition durch bereits bestehende, bestenfalls allgemein bekannte Musik wahlweise kommentiert, erweitert, durchkreuzt oder überhaupt aufgegeben. Bei relationaler Musik hört man nicht nur das neue Stück, sondern zugleich die darin wie auch immer beschworene oder inkludierte Musik, und natürlich beider Verhältnis zueinander.
Ein Paradebeispiel relationaler Musik erklingt erstmalig am 8. Oktober im Berliner Reichstag. Bestandteil von Stefan Heuckes „Variationen mit Haydn“ für Klavier sind die vier Cantus-firmus-Variationen, die Haydn im zweiten Satz seines sogenannten „Kaiserquartetts“ op. 76,3 über das Thema seiner zuvor komponierten Kaiserhymne „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ komponiert hatte. Geschuldet ist diese Auswahl dem Wunsch des scheidenden Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, der sich zur Verabschiedung aus dem politischen Leben ein Klavierwerk wünschte, das sich mit der deutschen Nationalhymne auseinandersetzt. Einen unmittelbar sinnfälligen Bezug auf andere Musik benennt auch der Titel von Christian Josts „Dichterliebe“. Die sechzehn Lieder von Robert Schumanns berühmtem Zyklus werden hier wie „Inseln“ in einer neuen Gesamtkomposition erscheinen. Sie bleiben zwar harmonisch und melodisch unangetastet, sind aber für bis zu neun Instrumente bearbeitet, anders akzentuiert und durch neue Zwischenspiele anders beleuchtet. Ob das Resultat Hans Zenders „komponierten Interpretationen“ berühmter Werke von Schubert, Schumann und Beethoven ähnelt oder andere Wege beschreitet, wird sich am 21. Oktober im Konzerthaus Berlin zeigen.
Das jüngste Werk der Differenz/Wiederholung-Serie von Bernhard Lang „DW 28 Loops for Davis“ bezieht sich auf Samples von Miles Davis und anderer Jazzgrößen. Uraufgeführt wird es am 20. Oktober im Eröffnungskonzert der Donaueschinger Musiktage. Im selben Konzert knüpft Øyvind Torvunds „Archaic Jam“ Beziehungen zu Traditionen von Singer-Songwriter und Bigband. Francesca Verunellis „Man Sitting at a Piano“ und James Saunders’ΚΌ „know that your actions reflect within the group“ thematisieren dagegen das Hervorbringen von Musik bzw. Interagieren im Ensemble. In „Minor Music“ verarbeiten Eugene Chadbourne, Alex Waterman und Barbara Kinga Majewska Musik von Johann Sebastian Bach, Karlheinz Stockhausen und Richard Wagner. Weitere Novitäten bei den Donaueschinger Musiktagen stammen von Emmanuel Nunes, Thomas Meadowcroft, Andreas Dohmen, Chiyoko Szlavnics, Dmitri Kourliandski, Ole Henrik Moe, Hanna Eimermacher, Martin Schüttler, Alexander Schubert, Eivind Buene, Marina Rosenfeld, Misato Mochizuki, Bunita Marcus und Márton Illés. Unweigerlich in Relation zur Gattungstradition begibt sich schließlich auch – ob gewollt oder nicht – das neue Streichquartett von Andrea Lorenzo Scartazzini, das am 24. Oktober in der Basler Oekolampad-Kirche das Quatuor Diotima erstmals zu Gehör bringt.
Weitere Uraufführungen:
01.-07.10.: Eres Holz, Dominik Susteck, Kosuke Ito, Eduardo Flores Abad, Mesias Maiguashca, neue Orgelwerke, Festival orgel-mixturen, Kunst-Station Sankt Peter Köln
06.10.: Tansy Davis, Sam Hayden, neue Ensemblewerke, Musikfabrik im WDR Köln
08.10.: Aribert Reimann, L’Invisible, Trilogie lyrique nach Maurice Maeterlinck, Deutsche Oper Berlin
10.10.: Peter Eötvös, Multiversum, Elbphilharmonie Hamburg
13.10.: Charlotte Seither, Neues Werk für Frauen-Vokalensemble, St. Matthäi Berlin
18.10.: Jörg Widmann, Neues Werk für fünf Sänger und Kammerorchester, Konzerthaus Ravensburg