Vorbei sind die Zeiten, als die Vereinigung der Evangelischen Marienschwestern vor der Kino-Version der ersten Rockoper warnten. Heute ist das viele spirituelle Ideen der letzten Jahrzehnte vorwegnehmende und 1971 in New York uraufgeführte Opus ein Klassiker mit besonderer Eignung für Theaterpädagogik und Religionsunterricht. Das Brandenburger Theater brachte eine bei der Premiere am 15. Oktober lautstark bejubelte Hommage mit Musical-Sternen des Großraums Berlin auf die Bühne.
Judas ist aus Perspektive des auch theologisch gebildeten künstlerischen Leiters Frank Martin Widmaier etwas softer als Jesus. Alexander di Capri bietet in der Gegenspieler-Paradepartie beinahe luziferische Qualitäten in der Stimme und das Charisma eines Verführers. Jesus dagegen (Chris Murray diesmal als Jesus) wirkt wesentlich älter als der Messias im 33. Lebensjahr und auch bei weitem nicht so sanft wie ein Friedensfürst. Murray hat etwas von Boris Karlow und auch etwas von Mick Jagger. Man hält ihn eher für einen Revoluzzer als einen sanften Schmerzensmann. Deshalb zerreißt ein Jubeltornado nach Murrays Stentortönen das Gethsamane-Solo noch vor der letzten Piano-Reprise. Wie „Mein Freund Bunbury“ vor zwei Jahren ist diese Eigenproduktion des Brandenburger Theaters ein Beweis für die Leistungskraft dieses Theaterbetriebs ohne eigenes Ensemble.
Mit sieben variablen Quadern lässt Bühnenbildner Johannes Fried die Passionsgeschichte spielen. Sie sind Mauern, Säulen und virtuelle Räume. Erwin Bodes Kostüme glänzen mit Casual, etwas Disco-Glimmer und einigen Specials wie für die koksende Travestie-Bitch. Oft sind sie unauffällig. Das hat Vorteile wie die absolut versierte, aber nicht outrierte Choreografie von Marie-Christin Zeisset und vor allem für die genrespezifische szenische Unterstützung durch den Jesus-Darsteller Chris Murray. Vieles ist bewegend in dieser Premiere: Die sängerisch aparte und sympathisch undämonische Maria Magdalena von Julia Berger. Sie modelliert eine Zugewandte mit sexuellem Selbstbewusstsein – zum Glück ohne Opfer-Attitüde! Es beeindrucken viele besten Nebenrollen wie Heiko Stang als der zum alten Märchenkönig im roten Mantel gewordene Pilatus, Romeo Salazar als Annas, Christian Miebach als Simon, Robin Poells swingsicherer Herodes und Felix Freund als emotionaler Peter (Petrus). Nicht zu vergessen die vier namenlosen Soulgirls, welche die besten und deutlichsten Argumente gegen die frauenlose Apostelgruppe der vier Evangelien-Texte liefern: Laura Saleh, Barbara Raunegger, Raliza van Oijen, Janneke Thomassen.
Widmaier entscheidet sich gegen die historisch informierte Aufführungspraxis eines Passionsspiels und für das Spiegeln der Befindlichkeiten von heute. Nur die Leprakranken haben, das wäre zu platt, kein Corona, Sie sind psychische Vampire, die an Jesus Persönlichkeit saugen. 14 Apostel*innen werden zu Zeugen des aufgepeitschten Emotionenduells von Judas und Jesus beim letzten Abendmahl. Die koedukative Apostelgruppe verhält sich auch an anderen Stellen eher entspannt als entfesselt und schon gar nicht wild. Die apotheotische Finalnummer bleibt ohne Abba-Delirium. Die Tempelaustreibung klammert den orgiastischen Sog von Sex and Drugs and Rock 'n' Roll aus, auf den man bis zur Jahrtausendwende nicht verzichten wollte und der heute in erster Linie als Schädigung der Gesundheit und somit der Sozialgemeinschaft gilt. Voll normal – ganz ohne queere Nebengleise, über die man beim Cuba libre nach der Show früher gerne räsonierte oder fabulierte – bleiben Pilatus' Traumerzählung und die strikt heteronormativen Antipoden Jesus und Judas.
Dieser Gruppe auf der Bühne ist das alles nichts mehr der Rede wert, wofür Angehörige von Webbers Generation auf die Straßen und Barrikaden gingen. Statt ins Wüstencamp, wo in Jewisons Film die Hippe-Gruppe ihr improvisiertes Oberammergau druchzieht, sieht man zu Beginn Menschen im Museum mit einem alten Buch als Schmuckstück der Sammlung. Einer der Besucher reißt eine Seite heraus und hat damit schon während der Ouvertüre ein Stückchen Himmel in der Tasche.
Zeit, was hast du aus den Rebell*innen von 1968 gemacht! Da offenbart Widmaier, dass wir auf einem anderen Epochen-Stern leben: Das Ensemble spielt heutige Best-Ager, die fast alles haben und bei weitem nicht mehr so viel wollen wie früher. Ein bisschen Swing, ein bisschen Fummeln, ein bisschen Erbosung. Drogen dürfen sein, sind aber eher Wellness-Klimax als Grenzerfahrung. Über die Empörung gegen geschlechtliche Rand-Identitäten oder Religionskonflikte ist man längst hinaus. Die Interaktion von Jesus und Judas wird in diesem Ambiente essenziell. Das sind Männer, die der Altersverweigerung und der Toleranz in bekömmlichen Portionen den Kampf ansagen. Demzufolge bedeuten in Widmaiers Regie die jüdischen Textilattribute keineswegs mehr dogmatische Drohungen, sondern Accessoires von Machthabern mit ermattendem, aber noch immer ausreichend gefährlichem Gewaltpotenzial.
Dieses kommt auch aus dem leider viel zu tiefen Orchestergraben. Gerne hätte man die von Stephan Kanyar befeuerten Brandenburger Symphoniker nicht nur gehört, sondern auch bei ihren musikalischen Tiefenschürfungen beobachtet. Statt Synthesizer gab's echte Musiker, die E-Gitarren leuchteten und klangen mit philharmonischer Süße. Webber erhielt trotzdem deutliche, geschärfte Aufmerksamkeit. Am Brandenburger Theater hörte man also, dass diese Musik zu Recht Klassiker-Status hat und auch ihre Wandlungsfähigkeit. Es war ein Abend mit dem Plädoyer für Emotionsrebellen wie Judas und Jesus, die in einer Regenbogengesellschaft mindestens so wichtig sind früher, als es in Hütten und Palästen der westlichen Welt noch um subversive Themen wie Drogen contra Dogma ging.