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Chowantschtschina in Antwerpen. Foto: Flämische Oper in Antwerpen
Chowantschtschina in Antwerpen. Foto: Flämische Oper in Antwerpen
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Bilder aus dem Niemandsland – Modest Mussorgskis „Chowantschtschina” in Antwerpen

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Die „verschillende historische bronnen“, die das Programmbuch in Antwerpen als Quellen für Modest Mussorgskis Libretto zu „Chowantschtschina“ nennt, sind teilweise trüb. Insgesamt werfen sie einen Blick auf die Geschichte des 16. Jahrhunderts unter großrussisch nationalen Auspizien. Es gehört zu den Paradoxien oder auch Delikatessen der laufenden Opernsaison, dass ausgerechnet dieses „Volksdrama“, das der Komponist Mussorgski 1881 unvollendet hinterließ, eines der bevorzugten Werke der Musiktheatersaison 2014/15 abgibt.

In Wien kommt es in wenigen Tagen in einer Inszenierung des konservativen sowjetisch-russischen Regisseurs Lev Dodin heraus, in Stuttgart wird eine ältere Dessauer Produktion reaktiviert. Den Auftakt zu den Erinnerungen an die Macht- und Klassenkämpfe im alten Russland, an die Brutalität der religiösen Auseinandersetzungen und die des Manns gegenüber der Frau machte jetzt David Aldens Inszenierung an der Flämischen Oper in Antwerpen. Gespielt wird unter der Leitung von Dmitri Jurowski die Bearbeitung durch Dmitri Schostakowitsch (1958).

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Morgenstimmung mit zarten Bläsertönungen und altgläubigem Hollywoodkirchenton kann sich auch zwischen kahlen Betonwänden einstellen. Das auf unterschiedliche Weise rechtschaffene alte Russland erwacht in der plausibel schlichten Ausstattung von Paul Steinberg. Man hat mit modernen Stühlen und Bürotischen zeitlos funktional möbliert. Am Eingang zu inneren, mutmaßlich labyrinthischen Bezirken der Staatsmacht befindet sich eine Kontrollstelle. Durch Bemäntelung mit gerafftem Tuch verwandeln sich die Betonrundungen später in fürstliche Residenzräume. Erst einmal verweisen große Zeiger auf der leeren Fläche darauf, was die Uhr geschlagen hat: acht nach sechs. Die Sicherheitskräfte in modisch rot-schwarz gesprenkelter Tschetschenien-Kampfmontur schaffen zwei Leichen weg (womöglich Kollateralschäden nächtlicher Kontrollen). Der Chor beklagt seinen Analphabetismus und die geschwungenen Wände lassen Schattenspiele in charakteristischen Verzerrungen zu.

Fürst Golyzin stellt sich ein – er steht plötzlich da an diesem Vorzimmertisch der Staatsmacht und kann nicht anders: Er diktiert einem um sein Leben bangenden Schreiber einen Informations- oder Denunziationsbriefs an die Regentin Sofia. Die will ihren geistig minderbemittelten Bruder Ivan auf dem wackligen Zaren-Thron halten – zusammen mit dessen minderjährigen Halbbruder Peter (nachmals der Große). Als Intrigant der patriarchalisch-jovialen Sorte stellt sich Vsevolod Grivnov vor – mit fulminanter Bassgewalt und versiert gut geführter Stimme. Er ist der Antipode des nicht minder machtbewussten Iwan Chowanski, der als Kommandeur der Strelitzen die zentrale Funktion im Sicherheitssystem einnimmt und den seine Klientel als „weißen Schwan“ feiert. Fürst Iwan bemerkt zu spät, wie ihm die Huld des Hofes und damit das Gesetz des Handelns entgleitet.

Mussorgskys grobkörnige Musik changiert zwischen Sentimentalitäten, religiöser Inbrunst und martialischen Momenten. Sie staffiert mit ihren deftigen Konturen drastisch Konflikte aus – zuvorderst die zwischen Traditionalisten und den Kräften einer allfälligen Erneuerung, aber auch zwischen der hemmungslosen Geilheit des Jungfürsten und dem Recht auf weibliche Selbstbestimmung, auf dem die deutschstämmige Emma mit bedingtem Erfolg zu bestehen versucht. Dem Dirigenten Dmitri Jurowski ist das Herausprozessieren der Kontraste hörbar Herzensangelegenheit. Mit dem Symfonisch Orkest Opera Vlaanderen gelingt ihm eine wohldosierte, in den Extremen nicht zu grelle Interpretation. Dem streckenweise zähen Fluss der behäbigen musikalischen Gedanken bleibt sie gleichwohl unterworfen. Wahrscheinlich trägt er ganz wesentlich zu dem bei, was als „russischer Charakter“ des Tonsatzes wahrgenommen wird. Über den jedenfalls wirkungsvoll breiten Strömen des Orchesters profilieren sich Elena Manistina mit erotisch nachglühendem Mezzo als fanatisch altgläubige Marfa, die den jungen Chowanski, ihren früheren Liebhaber, auf den rechten Pfad zurückführen will, dabei in der Höhe aber immer wieder forciert und die genaue vokale Spurführung verfehlt. Vorzüglich agiert der virile Bass Ante Jerkunica. Mit baritonalem Timbre bestreitet er die Partie des Vaters, der makellos singende und aussehende Tenor Dmitri Golovnin die des Sohns Chowanski. Beide werden auf dem Altar des Vaterlandes geopfert. D.h.: der Vater fällt einem Meuchelmord zum Opfer, der Sohn zieht mit Marfa und dem dezimierten Häuflein der Altgläubigen den Tod im selbst gelegten Feuer der Hinrichtung durch die Petrowsken vor. Die Garde des neuen Autokraten kann sich darauf konzentrieren, die Strelitzen zu liquidieren, die „boosaardige huurlinge“.

Pflegeleichte Produktion

So sinnfällig David Aldens Inszenierung zunächst in einer von historischer Verortung abstrahierenden Form die Intrige dazustellen versteht, so sehr rächt sich, dass er sich weder auf die Historie einlässt noch auf das Fortdauern einer russischen Mentalitätsgeschichte, die allemal die skrupellosesten Führernaturen begünstigt und Machtbalance, Interessenausgleich oder gar Barmherzigkeit für Schwäche hält. Trotz einer steril-mechanischen Rudel-Sexszene („Russisches Ballett“), einer sadistischen Nummer von Fürst Iwan mit einer persischen Tänzerin und anderen Auflockerungen aus dem britischen Herrenmagazinprogramm bleibt die pflegeleichte Produktion gegenüber den Emotionen der Handlung kalt und gegenüber dem historischen Elend wie den aktuellen russischen Defiziten begriffs-, bild- und teilnahmslos. Haben sich nicht zwischen Perestroika/Glasnost und der politischen Festigung der russischen Föderation unter Boris Jelzin durchaus vergleichbare Handlungsmuster gezeigt?  Wer bei „Chowantschtschina“ die theatral möglichen Widersprüche nicht wagt, bringt die Oper auf ein nurmehr der Musik ausgeliefertes Niveau herunter, mit dem dann auch die staatlichen Sparkommissare leichtes Spiel haben. Und die schlagen im Nachbarland Belgien jetzt zu. Sie behandeln die Opernunternehmen in Antwerpen und Gent, insbesondere das von Peter de Caluwe geleitete Musterinstitut in der europäischen Hauptstadt Brüssel wie die deutschen die Häuser in Neustrelitz und Halle.

 

Trailer for Khovansjtsjina (Khovanchina) by Modest Moesorgski. Director: David Alden.

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