Hauptbild
Novoflot in Berlin. Foto: Roland H. Dippel
Novoflot in Berlin. Foto: Roland H. Dippel
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Bis zur Schrottreife verfremdet – „Fidelio“-Skelettierung von Novoflot in Berlin

Publikationsdatum
Body

Zu Beginn des ersten Lockdowns 2020 kam es im Anhalter Bahnhof Berlin zur Geisteraufführung ohne Publikumspremiere. Diese wurde jetzt nach zweijähriger Verzögerung zum Performing Arts Festival Berlin in der Villa Elisabeth Berlin-Mitte nachgeholt. „Wir sind so frei #1“, die „Fidelio Musiktheater-Installation des Musikperformance-Kollektivs Novoflot“ als Beitrag zum Beethoven -Jahr, gehört zur Trias „Wir sind so frei #1 – #3“.

Die Uraufführung beeindruckte durch eine riesige Fülle an Material, welche Beethoven mit allen Mitteln und um jeden Preis übertrumpfen und dessen Pathos ins Unrecht setzen will. Ein Teil der performativen Großaktionen wirkte eindrucksvoll.

Wenn in einem kleinen Saal auf eine fast raumbreite Leinwand das berühmte Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix projiziert wird, macht das bei den etwa 12 Teilnehmenden der performativen Runde am frühen Freitagabend natürlich einen imposanten Eindruck. Mit schonungsloser wie eindrucksvoller Energie verbindet Novoflot zu etwa gleichgewichtigen Anteilen theatrale Show, Betroffenheitsrhetorik und dekorativen Aufwand. Zwischen Bildakzenten und Revoluzzer-Devotionalien gibt es weitaus mehr körperliche als vokale Artistik. Wie das Publikum in unmittelbare Nähe zu den Darstellern der sehr intensiven Aktionen kommt, gehört zu den Stärken dieser assoziativen Opernerkundung, bei der kein Musiknummernstein Beethovens auf dem anderen bleibt.

Die große Fülle des Inhalts-, Bild-, Textmaterials, die häufigen Wechsel der Aktionen und die große agitatorische Geste zeigen die Grausamkeiten von Krieg. Elisa Limbergs und Anne Storandts Spielraum lässt an ein Dokumentationszentrum denken. Erwähnt sei eine Nachbildung von Greta Thunbergs Zöpfen – mit Etikett, auf einer Stele und Kopfattrappe. Das Raumambiente wird fast wichtiger als das Spiel und das Spiel ist immer wichtiger als die Musik. Mehrfach verschwinden die singenden, sprechenden, sich bewegenden Darsteller in einem roten Würfel, der vokale Fernmomente schafft. Dazu gibt es Hilfe durch die elektronische Wiedergabe einer Soundcollage.

Das berühmte Quartett, in dem Leonore in allen von 1806 bis 1814 herausgebrachten Fassungen von Beethovens Rettungsoper „Fidelio“ ihren Mann vor dem Mord durch seinen politischen Gegner schützt, klingt wie polyphones Tafelkonfekt – allerdings etwas billig und leicht verzerrt. Aber das eröffnende Trompetensignal sitzt, während Accessoires an Che Guevara und Francisco de Goyas Bildzyklus „Verbrechen des Krieges“ erinnern. Verschiedene Rezitationen rufen Kriegsgreuel des 20. und 19. Jahrhunderts in Erinnerung. Deutlich werden nicht nur die Unmenschlichkeit des Mordens und Leidens. Da hat die Konzeption von Sven Holm in allem Recht – bis zum Büchertisch mit Antikriegsliteratur aus Belletristik und Sachbuch. Die Körperarbeit ist mindestens genau so intensiv wie die vokale. Die Soundcollage und das Arrangement von Vicente Larrañaga mit Antonis Anissegos’ Dirigat betreiben ein wildes Sägen am starken Stamm Beethovens.

Selbst wer die Oper „Fidelio“ nicht ganz kennt, ist mit zahlreichen Klangspuren aus dieser vertraut. Von Florestans Befreiungsvision im Kerker über den Gefangenenchor und den Jubel im Duett „O namenlose Freude“ gehört „Fidelio“ ins kollektive Gedächtnis Deutschland, Österreichs und der ganzen Opernwelt. Die Partitur wurde durch Novoflot bis zur Schrottreife verfremdet. Und natürlich klingt Beethoven, wenn ihn dünne Stimmen in die Intimität eines Balladenabends zurücksetzen, so, als seien die Zeichen der Zeit an ihm vorbeigegangen. Die gymnastischen Fertigkeiten von Almut Kühne sind fast noch größer als ihre stimmlichen. Wohl auch deshalb verklingt „Wir sind so frei #1“ mit der Phrase vom „unaussprechlich großen Glück“ aus der Arie Marzellines wie eine Frage.

Seit über 15 Jahren arbeitet Novoflot an performativen Erneuerungen von Opern. Bei der Beschäftigung mit „Fidelio“ sticht die Klassizität vieler Kunstmittel des Kollektivs ins Auge. Der collagehafte Überfluss und Überschwang wirkt wie ein Relikt aus den Agit-Prop-Revolten des 20. Jahrhunderts, deren aufwühlende Wirksamkeit in der gegenwärtigen Bilderflut weich werden und verblassen. Der Engel mit den Watteflügeln am Klavier ist ein Bild der Nüchternheit, nicht der tröstenden Transzendenz. Beethovens Formen zerfallen in assoziativen Feinstaub. Dass sie Opern zertrümmern und neue Assoziationsleuchttürme errichten können, haben Novoflot bewiesen. Aber bei „Fidelio“, der für verschiedene Ideologien und Politsysteme eine Fest- und Freiheitsoper wurde, ginge es nicht nur darum, Text und Musik zu atomisieren, sondern auch um den Phönix aus der Asche. Es bleibt bei einer sehr sachlichen Zermalmung mit einem nur dünnen affektiven Zugewinn.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!