Frieder Reininghaus nimmt die Uraufführung von Kaja Saariahos „Only The Sound Remains“, das das Opera Forward Festival in Amsterdam eröffnet hat zum Anlass, über eigenartige Entwicklungen bei ästhetischen Sparmaßnahmen nachzudenken als auch über das Verhältnis von Kirche und Theater heute: Konkurrenz und gemeinsame Potentiale.
In den Achtzigerjahren wurde man auf die in Paris lebende finnische Komponistin Kaija Saariaho durch „Verblendungen“ aufmerksam – durch Orchestermusik mit einer dezidierten Frauenhandschrift und vorzugsweise auch mit Kombinationen von Instrumenten des klassischen Apparats und aufwändigem Einsatz von Elektronik. Inzwischen hat Saariaho zusammen mit Amin Maalouf bei den Salzburger Festspielen 2000 mit „L’amour de loin“ die anrührende Geschichte des Trobadors Geoffroi Rudel und seiner fernen Liebsten präsentiert, 2006 an der Pariser Opéra „Adriana Mater“ zur Frage von familiären Bindungen in den neueren Balkankriegen und 2010 in Lyon „Emilie“, ein Monodram zu Voltaires Lebensgefährtin Marquise du Châtelet, der Übersetzerin von Newtons Texten ins Französische. Dem Textdichter Maalouf ist die Komponistin nun untreu geworden. Sie hat sich bei Ezra Pound (1885–1972) bedient. Dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Europa gekommene US-amerikanische Poet propagierte zunächst Imagismus und Vortizismus, entpuppte sich dann als Bewunderer und Propagandist von Mussolinis schwarzem Sonnenstaat.
But only the sound remains
Zwei Kurzgeschichten nach mittelalterlichen japanischen Vorlagen ergaben zwei aneinandergehängte Kurzopern für zwei Sänger: einen Bass-Bariton und einen Counter. Die tiefe Männerstimme bestreitet zunächst die Partie des Priesters, der ein Trauer-Ritual für einen in der Schlacht getöteten Gespielen des Kaisers zelebriert. Der Gefallene scheint sich leibhaftig zu vergegenwärtigen und meldet sich mit der hohen, seraphisch schönen Geisterstimme. But only the sound remains. Die zweite kurze Handlung beschert dieselbe Männer- und Stimm-Konstellation: Ein Fischer findet auf dem Weg zur Arbeit ein Federkleid und will es als Trophäe mit in sein karges Eigenheim tragen. Aber der Eigentümer des Federschmucks tritt ihm entgegen, erbittet ihn zurück (denn ohne diese Hülle kann der Engel nicht wieder in seine höheren Heimatregionen zurück) und bietet einen himmlischen Tanz als Kompensation. Dies gibt nun wiederum Gelegenheit zu einer ausladenden Ballett-Einlage. Ihr Programm ist der zu- und abnehmende Mond. Derweil erhält nicht nur Davone Tines ausführlich Gelegenheit, neuerlich seinen voluminös-sonoren Bass-Bariton auszuspielen. Insbesondere erhebt sich Philippe Jaroussky in stimmliche Höhen. Dieser geschmeidige Counter erscheint als wahrhaft verführerischer Engel, der Frauen- und Männerherzen zum Schmelzen bringt und viele Gemüter rührt.
Hilfreich für diese Affekte und Effekte ist das sensible Klangkunstgewebe, das Saariaho den melodischen Lineaturen ihrer beiden Protagonisten unterzog. Bestritten und getragen wird es von einem Background-Gesangsquartett und einem Streichquartett, supplementiert von einem Schlagzeuger, einer häufig die Geräte wechselnden Flötistin sowie Eija Kankanranta, die mit ihrer Kantele ein Instrument der finnischen Volksmusik einbringt. Die dreizehn Musiker werden über die weitesten Strecken von André de Ridder zu einer sehr ruhigen Musik angehalten – die Tempi variieren zwischen Adagio, Largo, Lento und Andante. Nur im zweiten Teil gestattet ihnen Saariaho gelegentlich einen kleinen Ausflug zum Allegretto. Die so pflegeleicht wie kundenfreundlich konzipierte Kammermusik verstärkt, verlängert, vergrößert sich durch aufwändige Live-Elektronik in alle Richtungen des großen Opern-Auditoriums. Wird aber dadurch nicht zu großer Oper. Es fehlt an der Innen- und Außenspannung, bleibt klein angelegtes Klangkunstgewerbe – und ziemlich bald schauen die meisten im Publikum verstohlen oder sichtlich ungeduldig auf ihre Uhren. Aber ob sie sich nun die Holländerinnen bei dieser Eröffnung des neu kreierten „Opera Forward Festival“ besser oder schlechter gelangweilt haben, ist nicht beunruhigend. Eher der sich auch mit dieser Produktion fortsetzende Trend, den Opernchor durch ein preisgünstiges Vokalquartett zu ersetzen und das Orchestertutti durch Elektronik. Da streckt sich etwas, was „rein künstlerisch“ motiviert scheint, allzu willig nach der dünner gewordenen ökonomischen Decke. Der Werbe- und Marketingetat aber wurde aufgestockt.
Peter Sellars, der als Regisseur der Mozartschen Da Ponte-Opern in den 80er Jahren Pionierarbeit für ein zeitgenössisches Musiktheater geleistet hat, ist seit zwei Jahrzehnten in ganz Europa zur Stelle, wenn es gilt, gefühlsintensive Werke mit starker Sakralkomponente auf die Bühne zu heben – ob in Paris, Salzburg, Wien, Aix-en-Provence oder Amsterdam, wo er bereits 1999 Strawinskys „Bijbelse stukken“ zelebrierte. Nun ist er mit einer Sparlösung wiedergekehrt: Vor einem Bild nach der Machart des abstrakten Expressionismus standen die Sänger mit bedächtiger priesterlichen Handarbeit oder den rudernden Armbewegungen des Fischersmannes bzw. des fluguntauglichen Engels. Sellars ließ sie ohne weitere Inanspruchnahme ihre Stimmungsmusik singen.
Saariaho und die Werbeabteilung der niederländischen Nationaloper haben versprochen, „dat verborgen licht naar buiten treden“ – „nach draußen treten“ – zu lassen. Das ist gewiss erhellend gemeint und gewiss ein Lichtsignal für das Stichwort „vorwärts“, welches das neue Amsterdamer Opernfestival im Titel trägt. Es mag freilich auch an die ehrenwerten Bürger von Schilda erinnern, die einst in ihren Körben das Mondlicht von draußen nach drinnen tragen wollten nachdem sie vergessen hatten, Fenster ins neue Rathaus einzubauen. Dabei geht es Saariaho nicht um Fragen der Rathäuser, Parlamente oder Regierungen, sondern um einen Abglanz der christlichen Lichtmetaphorik. Von daher möchten ihre Bühnenwerke „Aura“ beziehen.
Freilich hat Robert Zollitsch, als er noch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war, solche Trittbrettfahrerei laut kritisiert. Der Freiburger Erzbischof hob 2010 hervor, dass es nicht nur gemeinsame Potentiale zwischen Kirche und Theater gäbe, „sondern auch eine merkwürdige Konkurrenz, die wohl darin begründet liegt, dass Kultus und Theater jeweils ganz und gar auf die Kraft des Behauptens setzen. Darin liegt ihre Nähe und darin liegt ihre Distanz. Denn bei aller Parallelität ist der Raum der Kirche nicht das Theater und der Raum des Theaters nicht die Kirche. Es gibt eine ausbaubare Schnittmenge, aber dennoch: Theater braucht eigene Räume“. Gerade auch die Musiktheater sollten sich nicht als Ersatzverkündigungsstätten andienen und sich mit Kathedralen oder Dorfkirchen verwechseln. Dass es bei erkennbaren Unterscheidungsmerkmalen bleibt, mag auch im Eigeninteresse der großen christlichen Glaubensinstitutionen liegen. Ohnedies im Sinne des Theaters, das es zu einem aus den christlichen Traditionen erwachsenen Laizismus gebracht hat und gerade auch deshalb seelenhaushälterisch ergiebig wurde. Sollte diese Errungenschaft nicht als Bestandteil des „Weltkulturerbes“ bewahrt werden – nicht anders als die Häuserzeilen an den Amsterdamer Grachten?