28.Dezember 1944 – das Premierendatum des ersten Bernstein-Musicals macht nachdenklich: im Deutschen Reich wurde das fanatisch-pathetische Durchhalte-Machwerk „Kolberg“ mit seiner unerträglichen Kriegsverklärung im Schneideraum fertiggestellt und dann am 30.Januar 1945 uraufgeführt; gleichzeitig wurde im New Yorker Adelphi Theatre bereits vier Wochen lang der Lebenshunger von drei US-Navy-Matrosen auf 24 Stunden Landurlaub bejubelt – und lief mit 463 Aufführungen weit über das Kriegsende hinaus.
Musical-Premiere im Staatstheater am Gärtnerplatz – das bedeutet in der Intendanz Josef E. Köpplinger letztlich „Theater-Feuerwerk“. Wenn es das gäbe, wäre diesmal auch von lila bis schwarzen Feuergirlanden zu berichten – denn es gab ein bisschen weniger prickelnden Glitzer. Ob das daran lag, dass diese Koproduktion mit dem Theater St. Gallen ihre eigentliche Premiere dort hatte und jetzt Solist Peter Lesiak (Ozzie) sowie die „song-and-dance“-Truppe neu einstudiert wurden, also ein Quäntchen Premieren-Adrenalin fehlte…? Ob es daran liegt, dass die im englischen Original servierten Songs, Duette, Terzette und speziell das Quartett „Some other time“ doch Übertitel verdienten, denn da haben die Broadway-Größen Betty Comden und Adolphe Green (die beide auch in der Uraufführungsserie mitwirkten) viel Besseres als Schlagertexte, weil Nachdenkenswertes geschrieben? Doch den Hauptgrund lieferte der damals 26jährige Leonard Bernstein. Der war gerade zum jungen Pult-Star aufgestiegen, hatte eine Symphonie und kleinere klassische Werke geschrieben und war mit der Musik zu Jerome Robbins Ballett „Fancy Free“ am Broadway aufgefallen.
Die Idee des Quartetts Robbins-Comden-Green und eben Bernstein, daraus ein abendfüllendes Musical zu machen, führte nicht nur zum ersten zeitgenössischen Musical, es traten neben weißen auch farbige Künstler auf – und zu den herausragenden Texten lieferte Bernstein neben allem pulsierenden Broadway-Zauber zwischen „Jazz-Rumba-Galopp-Fox-u.v.a.“ eben mehr: der Künstler in ihm brach sich Bahn. Er schilderte orchestral die morgendliche Ödnis des Marinehafens, den lärmend-leeren Trubel der Metropole New York und darin die Verlorenheit des Menschen, eben dieses „Jedermann-Matrosen“ Gabey, der einfach die wahre Liebe sucht und sich in „Lonely Town“ verloren fühlt, einem anrührenden Lied der Einsamkeit. Das steigert Bernstein noch: als nach fast 24 Stunden die zwei anderen Paare dem Liebespaar Gabey und Ivy in der U-Bahn nachfahren, wächst aus aller Katerstimmung die Melancholie des Abschieds, all des Versäumten und die existentiell bittere Ahnung des Unwiederbringlichen heraus – nur leise vertröstet, dass es möglich wird „some other time“ – ein Quartett, das keinen musikalischen Vergleich scheuen muss und sich Jahre später zur bis heute gültigen Utopie des „Somewhere“ am Ende der „West Side Story“ steigern wird.
Das ist es: Bernsteins „On the Town“ ist neben allem Musical-Schmiss von der Bitterkeit des – und jeden – Kriegs unterschwellig durchzogen – und den unterschlug Köpplinger nicht. Schon der dramaturgische Kreislauf ist bitter: zu Beginn ziehen Gabey, Chip und Ozzie um 6 Uhr morgens für einen Tag Landurlaub los, während ihre zuvor eingeteilten Kameraden müde verkatert wieder an Bord müssen; am Ende bleiben die drei Frauen zurück, während ihre Boys die Gangway hochmüssen – und schon die nächsten drei Freunde mit gleicher Musik und Gestik nach „New York-New York“ herunterfetzen, um 24 Stunden lang alles Leben zu leben – alle wirken austauschbar, der Einzelne ist nichts im Krieg … höchstens vielleicht „some other time“…
Den Lebenshunger dieser 24 Stunden, der durch den Straßendschungel, das Naturkunde-Museum, Carnegie Hall, in ein Edel-Apartment und eine schäbige Frauen-WG, drei höchst unterschiedliche Nachtclubs und nach Coney Island führt – diesen Wirbel von 16 Schauplätzen haben Regisseur Köpplinger und Bühnenbildner Rainer Sinell mit Videofahrten, realistischen oder surreal verzerrten Bauteilen rasant beschworen – und auch kurz Kriegsfilmsequenzen auf dem Zwischenvorhang flimmern lassen. Alfred Mayerhofers Kostümvielfalt traf den 40er Jahre-Stil samt ein bisschen Show-Glitter. Choreograph Adam Cooper ist das Kompliment zu machen, dass er zwischen dem Musical-Fetz-Peng alle auch innehalten ließ; schöne, kleine menschliche Begegnungen waren im Zusammenspiel mit Köpplingers Regie geformt – und Cooper hat vor allem die sechs Solisten so weit tänzerisch geführt, dass sie aus den Ensembleszenen nicht herausfielen und die Übergänge zu den Pas de deuxs „Lonely Town“ sowie „Coney Island“ fließend gelangen.
Dass Dirigent Michael Brandstätter ein paar kleine „Bernstein-Jumps“ auf dem Pult bot, charakterisiert exakt den musikalischen Tonfall: von beflügelt bis zu intim zurückgenommen, von Combo- über Big-Band- zu großem Symphonie-Klang. Er führte das vielköpfige Ensemble aus den vielen kleinen Rollen vielfarbig bis zur herrlich männerfressenden Claire von Bettina Mönch, der sehr „walkürigen“ Brunhilde Esterhazy von Sigrid Hauser und der recht vorsichtig liebenden Ivy von Julia Klotz – und weiter zum gerne Claire verfallenden Ozzie von Peter Lesiak, dem erfreut Brunhilde erliegenden Chip von Boris Pfeifer und dem überzeugend lyrisch zurückhaltenden Gabey von Daniel Prohaska. Uneingeschränkter Jubel, ein wenig verhaltener als in früheren Musical-Premieren – angemessen: die Liebe ist süß, doch aller Krieg ist bitter.