Hauptbild
v.l. Etienne Walch (Bill Henson), Lavinia Dames (Grace), Christina Clark (Olivia) und Alice Lackner (Martha). Foto: Matthias Jung
v.l. Etienne Walch (Bill Henson), Lavinia Dames (Grace), Christina Clark (Olivia) und Alice Lackner (Martha). Foto: Matthias Jung
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Blechbläser-Riffs und Schlagzeug-Kaskaden

Untertitel
Zur Uraufführung von Gordon Kampes Oper „Dogville“ am Aalto-Musiktheater Essen
Publikationsdatum
Body

Um zwei Jahre hat sich, bedingt durch die Folgen der Corona-Pandemie, die ursprünglich für Frühjahr 2021 vorgesehene Uraufführung von Gordon Kampes Oper „Dogville“ am Aalto-Musiktheater in Essen verschoben. Am vergangenen Samstag erblickte das Stück endlich das Licht der Welt und entpuppte sich als musikalisch-szenischer Donnerschlag.

Die unbändige Lust am Musiktheater begleitet den Komponisten Gordon Kampe (*1976) schon lange: Bereits zum Abschluss seines Kompositionsstudiums an der Folkwang Universität der Künste in Essen legte er vor zwanzig Jahren eine Kammeroper mit dem Titel „Mondstrahl“ vor. Seither haben einige kleiner besetzte Stücke wie „ANOIA“ (Bielefeld 2012) oder kooperative Arbeiten wie „PLÄTZE. DÄCHER. LEUTE. WEGE.“ (Bielefeld 2015) ihren Weg auf die Bühne gefunden. Darüber hinaus ist Kampe aber auch als leidenschaftlicher Befürworter und Komponist anspruchsvoller Kinder- und Jugendopern hervorgetreten und schuf in diesem Segment mit „Kannst du pfeifen, Johanna“ (nach dem Kinderbuch von Ulf Stark, Berlin 2013) ein mittlerweile häufig gespieltes Repertoirestück. Mit der nun am Aalto-Musiktheater in Essen uraufgeführten Oper „Dogville“, basierend auf dem englischsprachigen Drehbuch zu Lars von Triers gleichnamigem Film aus dem Jahr 2003, hat der Komponist auch seine Fähigkeiten auf dem Feld der mit großem Gesangsensemble und sinfonischem Orchester besetzten Oper eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Vom Film zur Oper

Dogville, das ist ein abgeschiedenes Dorf irgendwo in den Bergen, ein in sich geschlossener sozialer Kosmos, dem verschiedenste kauzige Bewohner*innen angehören. Allein der junge Tom Edison ragt aus diesen heraus, legt gewisse Ambitionen an den Tag und initiiert immer wieder Versammlungen, um der Gemeinschaft Lektionen in Bezug auf das Zusammenleben zu geben. Der dörfliche Alltag wird eines Tages durchbrochen, als die junge Grace um Asyl bittet, weil sie vor Gangstern auf der Flucht ist. Tom, der sich in Grace verliebt und sie in seiner Nähe wissen möchte, erwirkt, dass der Fremden Unterschlupf gewährt wird und sie im Gegenzug für alle Dorfbewohner*innen niedere Dienste verrichten soll. Nach einer eher durch gegenseitige Gleichgültigkeit bestimmten Phase be­ginnt die Stimmung zu kippen: Grace wird zunehmend erniedrigt, gedemütigt und misshandelt und muss sich in ihrer Not auf alles einlassen, bis sie sich am Ende nach einer überraschenden Wendung als Tochter eines Gangsterbosses entpuppt, den Spieß umdreht und das Ende der Dorfbewohner*innen einläutet.

Der große Vorteil von Kampes „Dogville“ ist, dass der Komponist erst gar nicht versucht, eine Oper über Lars von Triers Film zu schreiben. Indem er entscheidende dramaturgische und szenische Lösungen des Films ignoriert, schafft er vielmehr die Grundlage für eine an die Bedingungen und Erzählweisen der Musiktheaterbühne angepasste Adaption. Zwar behält das in gemeinsamer Arbeit von Regisseur David Hermann, Dramaturg Chris­tian Schröder und dem Komponisten erstellte Libretto den Handlungsverlauf des Originaldrehbuchs bei, doch hat unverkennbar die Perspektive gewechselt: Die sachliche Ebene eines Berichts über die Ereignisse, im Film durch Einführung einer allwissenden Erzählerstimme vertreten, wurde vollständig eliminiert; stattdessen rückt nun die Perspektive von Grace in den Mittelpunkt, und die Musik nimmt sich über weite Strecken wie ein Blick in das Innenleben der rätselhaften Frau aus. Dass Grace fast permanent in unterschiedlichen Räumen oder Häusern Dogvilles unterwegs ist, hat bei der Uraufführungsrealisierung auch faszinierende szenische Konsequenzen: Hermann zeigt ihren Weg von der Bittstellerin zur Gedemütigten und schließlich zum Racheengel als von links nach rechts gnadenlos aufsteigende Folge einander ablösender und am Publikum vorbeigleitender Innenräume, in denen sich alle Ereignisse abspielen, bis Grace am Ende dieses Passionsweges eine Plattform auf der Außenseite erreicht, wo sie sich von der passiv Ertragenden in eine entschlossen Handelnde verwandelt.

Sorgfältige Detailarbeit

Bei alldem unterstreicht Kampe in „Dogville“ mit Nachdruck, mit welch großer Sorgfalt er sich dem Komponieren für Stimmen widmet und deren Möglichkeiten auszutasten versteht: In jede einzelne Rolle (14 Sänger*innen und eine Sprechstimme) hat er Besonderheiten der Stimmbehandlung eingearbeitet, um ihr ein spezifisches Profil zu verleihen, was dazu führt, dass die Dorfbewohner*innen allesamt als individuelle Charaktere von eigenem Gewicht auftreten, dabei aber zugleich auch in diesen Ausdrucksweisen festhängen, ohne sich jemals daraus lösen zu können. Wie Kampe auf dieser Grundlage arbeitet, wird gleich in der noch auf ebenerdiger Bühne spielenden Introduktion vor Augen geführt, wo sich alle nach und nach einfinden und, unterstrichen von ihrer jeweiligen Stilistik, als Ansammlung von Individuen präsentieren, bevor sich die Einstimmen dann zu einem Chor vereinigen, um sich als Gemeinschaft zu artikulieren. Dieses Zusammenwachsen von großer Heterogenität zu einem homogenen, zielgerichtet agierenden Ganzen und die daraus resultierenden Spannungsmomente setzt Kampe immer wieder ein, um ein musikalisches Gegengewicht zur Außenseiterin Grace zu schaffen. Ihre zentrale Partie – der Sopranis­tin Lavinia Dames auf den Leib geschrieben –, unterliegt im Gegensatz zu den übrigen Rollen einer permanenten Entwicklung des stimmlichen Ausdrucks, der von einer eher in die tiefen Register verlagerten Zurückhaltung der Bittstellerin über eine allmähliche Entfaltung ihres Ausdrucksspektrums bis hin zu den gegen Ende hin hervortretenden Sprechpassagen reicht.

Doch auch im Umgang mit dem groß besetzen, um zahlreiche Schlaginstrumente erweiterten Orchester zeigt Kampe, zu was er kompositorisch und jenseits der kleinen Besetzungen seiner bisherigen Bühnenwerke in der Lage ist: In klanglicher Hinsicht verleiht er jeder der insgesamt 18 an die Introduktion anschließenden Szenen eine individuelle Gestalt, sodass szenische Wechsel auch als klangliche Veränderungen wahrnehmbar werden. In diesem Kontext verleiht er nicht nur jedem der aufscheinenden Innenräume von „Dogville“ wiederum einen eigenen musikalischen Charakter, sondern versenkt auch Spuren dessen in die Musik, was Grace dort jeweils widerfährt, indem er einzelne Details des Tonsatzes auf bestimmte Weise verändert, verstärkt oder verzerrt. Und immer wieder geht dieses Verfahren auch Hand in Hand mit den jeweils agierenden Stimmcharakteren: Beispielsweise bekommt das Haus des blinden Jack McKay – eines Mannes, der immer vorgibt, noch sehen zu können – eine bedrohliche Atmosphäre, in der sich Geräuschelemente und geisterhafte Konturlosigkeit in den Vordergrund drängen.

Außergewöhnliches  Musiktheaterereignis

Ansonsten navigiert Kampe stilis­tisch bravourös innerhalb verschiedener Ausdrucksbereiche, lässt beispielsweise den Tonfall eines unschuldigen Kinderliedes, das Pathos märchenhafter Feingliedrigkeit oder den scheinbaren Duktus eines Volksliedes anklingen, um dann die Musik in schneidende Blechbläser-Riffs oder rhythmisch drängende Schlagzeugkaskaden umkippen zu lassen. In kurzen Intermezzi vertieft der Komponist zudem die szenischen Ereignisse, verleiht dem Geschehen emotionale Tiefe und öffnet klangliche Abgründe, aus denen etwas von dem tönt, was ansonsten hinter der Fassade der Dorfgemeinschaft versteckt ist. Im Hinblick auf die kompositorische Gestaltung besonders gelungen, ist die 15. Szene, ein Duett, in dem Tom der geschundenen Grace seine Liebe gesteht, während im Orchester die Harmonien, Derivate der beiden Dogville-Akkorde h-Moll und es-Moll, ineinandergeschoben, aufgeraut und in teils bedrohlicher Dichte zusammengeballt werden – ein akustischer Hinweis darauf, dass die hier miteinander singenden Personen niemals werden zusammenfinden können.

Mit dem akribischen Blick auf musikalische Details geht schließlich das Bewusstsein für die musikalische Dramaturgie der großformalen Anlage einher: Kampe schafft es, den Spannungsbogen über knapp 100 Minuten hinweg zu halten und wartet dazu noch in Szene 18 mit einem geradezu gnadenlosen Schluss auf, in dem er – nach Stillstellung der Zeit in einem kurzen Arioso von Grace – das Orchester klanglich entfesselt. Die auch atemberaubende szenische Umsetzung dieser Racheszene sorgt dafür, dass man nach dem aufgepeitschten Schluss zunächst einmal wie erschlagen zurückbleibt.

Ein großes Lob gilt dem gesamten Essener Opernensemble – allen voran der aufgrund ihres vielfältigen Ausdrucksspektrums überwältigenden Lavinia Dames und ihrem männlichen Gegenpart, dem lyrischen Bariton Tobias Greenhalgh –, den von Tomáš Netopil mit viel Emphase geleiteten Essener Philharmonikern (deren Vortrag im Hinblick auf Intonation, klangliche Feinheit und Präzision  des Zusammenspiels freilich noch ein wenig Luft nach oben hat) und dem Regieteam des Aalto-Musiktheaters, das „Dogville“ zu einem rundum gelungenen, außergewöhnlichen Musiktheaterereignis geformt hat. Und ein großes Lob natürlich auch dem Komponisten, dem hier ein wirklich großer Wurf gelungen ist.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!