Kurz nach dessen neuntem Todestag hat die Ernst von Siemens Musikstiftung mit einem Konzert des 100. Geburtstags von Pierre Boulez gedacht, der am 26. März 1925 geboren wurde und am 5. Januar 2016 verstarb. Auf dem Programm der Veranstaltung im Münchner Prinzregententheater – in Kooperation mit der musica viva des Bayerischen Rundfunks und dem Lucerne Festival – standen mit „Éclat/Multiples“ und „Pli selon Pli – Portrait de Mallarmé“ zwei Hauptwerke des Komponisten. Es spielte das französische Orchester Les Siècles unter Franck Ollu, Sarah Aristidou übernahm den Sopranpart in „Pli selon Pli“.
Blick und Hörsinn geschärft
Das hört sich unspektakulär an und soll es auch. So jedenfalls der Wunsch der EvS-Musikstiftung, die mit ihren Stifterkonzerten unter dem Motto „räsonanz“ Werke aus den letzten Jahrzehnten ein Stück weit im Standardrepertoire etablieren will. Angesichts der Instrumentenaufstellungen vor und nach der Pause, die dem Orchesterwart sichtlich den Schweiß auf die Stirn trieb, wirkt dieser Wunsch im Falle der Boulez-Klassiker ambitioniert. Auch die Anforderungen ans Orchester sind enorm, wie sich am Mienenspiel der Beteiligten mitunter ablesen ließ.
Les Siècles ist einer der wenigen größeren Klangkörper, die sowohl in der historischen Aufführungspraxis als auch in der zeitgenössischen Musik zu Hause sind. Die Kompetenz der Instrumentalist*innen auf letzterem Gebiet ist hoch, und doch war es erfrischend zu sehen, dass die vertrackten Stimmen nicht mit jener stoischen Selbstverständlichkeit und Coolness gemeistert wurden, wie man es von den einschlägigen Spezialensembles gewohnt ist. Fast ausgelassen stürzte sich das Orchester in die überraschend tanzartigen, an die Turangalîla-Sinfonie von Boulez’ Lehrer Olivier Messiaen erinnernden Passagen.
Ein weiteres optisch-atmosphärisches Plus war in „Éclat/Multiples“ das Dirigat von Franck Ollu: Wie er mit präzisen, aber auch bildhaften Gesten der rechten Hand die immer wieder neu zusammengesetzten Klangimpulse gleichsam aus dem Orchester pflückte, war eine Augenweide. Blick und Hörsinn wurden geschärft für das subtile Nachzittern, dass diese vereinzelten Klangereignisse im Lauf der knappen halben Stunde im Orchesterapparat auslösen.
Obwohl das spröde, in seiner konsequenten Struktur und klanglichen Finesse aber nach wie vor frisch wirkende Stück überzeugte, wäre mit Blick auf das über einstündige Mallarmé-Portrait nach der Pause aber wohl ein kontrastierendes Werk aus einer anderen Feder als Einstieg sinnvoller gewesen. Fixpunkt war nun die nach anfänglicher Zurückhaltung beeindruckende vokale Präsenz entwickelnde Sarah Aristidou. Auch in ihren langen Pausen strahlte sie eine innere Gespanntheit und Konzentration aus, die die Mallarmé-Texte und Fragmente stumm nachklingen ließ.
Les Siècles waren auch hier auf der Höhe der zwischen Sperrigkeit und Sinnlichkeit schillernden Partitur. Wie schon im ersten Teil geriet die Aufführung zu einer Schule des hörenden Sehens – oder andersherum: des sehenden Hörens. Denn nicht selten tappt man bei Boulez im Dunkeln, wenn es darum geht zu erraten, aus welcher Instrumentenkombination ein bestimmter, unerhörter Klang sich da gerade zusammensetzt. Der lauschende Blick ins Orchester: erhellend.
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