Die in der letzten Kolumne für November angekündigten Uraufführungen fanden allesamt nur auf dem Papier statt. Einmal mehr wurden sämtliche Konzert- und Theatervorstellungen verboten. Man blieb folglich zu Hause, hing vor Fernseher oder Netflix, hörte Musik über Tonträger oder Medien – und griff zu Büchern. Beispielsweise zu dem alten Bändchen „Die Künste im technischen Zeitalter“ mit Beiträgen einer hochkarätig besetzten Vortragsreihe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, die 1953 an der Technischen Hochschule München stattfand.
Der Quantenphysiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg formulierte darin die prophetische Ahnung: „Vielleicht werden später die vielen technischen Apparate ebenso unvermeidlich zum Menschen gehören, wie das Schneckenhaus zur Schnecke oder das Netz zur Spinne.“ Tatsächlich gibt es heute zahllose Smart-Geräte, Apps, Social Media, KIs, Chip-Implantate, Prothesen, Schrittzähler, Optimizer und Halo-Armbänder, die uns immer und überall telemedial verschalten, kommunizieren, suchen und finden lassen, in Filterkokons verpuppen und auf Nachfrage mitteilen, wie es uns geht.
Martin Heidegger fragte in seinem Vortrag – getreu seiner Existenzialphilosophie – nach dem Wesen der modernen Technik, also nach dem „Ge-stell“, „das den Menschen stellt, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen“; oder anders gesagt, „das den Menschen auf den Weg jenes Entbergens [bringt], wodurch das Wirkliche überall, mehr oder weniger vernehmlich, zum Bestand wird.“
Können noch alle folgen? Was den Menschen auf diesen Weg des Entbergens schickt, ist das „Geschick“, sprich das „Wesen aller Geschichte“. Da jedoch alles Wesende das früheste ist, das sich am längsten verborgen hält, schlussfolgert der Hirte des Seins: „Jenes, was hinsichtlich des waltenden Aufgehens früher ist, wird uns Menschen erst später offenkundig. Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt. Darum ist im Bereich des Denkens eine Bemühung, das anfänglich Gedachte noch anfänglicher zu durchdenken, nicht der widersinnige Wille, Vergangenes zu erneuern, sondern die nüchterne Bereitschaft, vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen.“ Jetzt aufgepasst! Was bedeutet das für die Musik und deren Geschichte bzw. „Geschick“? Entbirgt sich das verschleierte früheste Wesen von Musik also nicht in Gregorianik, Bach, Beethoven, Bruckner, sondern gerade in der neuen und allerneuesten Musik? Offenbarte es sich während der 1950er-Jahre vielleicht in der damals revolutionär neuen Technologie und Klanglichkeit der elektronischen Musik?
Schlusslicht im Münchner Vortragsreigen bildete damals der Archäologe und Kunsthistoriker Walter Riezler, der sich später als Musikwissenschaftler betätigte und dessen „Beethoven“-Buch von 1936 zahlreiche Neuauflagen erfuhr. In seinem Beitrag „Die Musik“ schreibt er über die Töne und Geräuschklänge der „Elektronenmusik“, „sie kommen aus einer Welt, in der es den Menschen nicht gibt, nur teuflische Wesen, denen der Mensch als seelisches Wesen wahrscheinlich nicht gewachsen ist, die ihn vernichten oder in den Wahnsinn treiben. Sollte hier wirklich mit den Mitteln der neuen Physik ein Einbruch in die Sphäre des letzten Urgrunds der physischen Welt gelungen sein, so würde das eine Gefährdung der Menschheit bedeuten, die nicht geringer ist, als die durch die Atombombe.“ Es ist und bleibt ein Kreuz mit Musikwissenschaftlern, die „der widersinnige Wille, Vergangenes zu erneuern“, mehr antreibt als Neugierde, Wachheit und Offenheit, „vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen“.
Uraufführungen (unter Vorbehalt):
- 3.12.: Christina C. Messner, Das Schweigen der Dafne – Musiktheater, Alte Feuerwache Köln
- 9.12.: Heinz Holliger, ENSMO OMNES für Ensemble Modern, Alte Oper Frankfurt
- 14.12.: Christoph Maria Wagner, neues Werk für E-MEX Ensemble, WDR Köln
- 16.12.: Sebastian Claren, Irene Galindo Quero, Martin Schüttler, Enno Poppe/Wolfgang Heiniger/Michael Lentz, neue Werke für Ensemble Mosaik, Kulturbrauerei Berlin
- 18.12.: Beat Furrer, Konzert für Klarinette und Ensemble Boulez-Saal Berlin; Hans Werner Henze, Konzertmusik, Elbphilharmonie Hamburg
- 20.–24.1.: Ultraschall Berlin, Festivalprogramm wird kurzfristig bekannt gegeben: www.ultraschallberlin.de