Weills Opernerstling „Der Protagonist“, Einakter von 1926 auf ein Libretto von Georg Kaiser, frappiert bis heute durch seine Modernität. Dass sich im Stück ein Schauspieler mit seiner Rolle eines Mönchs so sehr identifiziert, dass er im Grenzbereich zwischen Fiktion und Realität ebenso dessen bigotte Lüsternheit wie die eigene inzestuöse Zuneigung zur Schwester auslebt, rief damals einen Skandal hervor.
Doch es geht vielschichtiger zu: Der Mord an der vergebens Geliebten findet auf offener Bühne statt, und das innerhalb einer zur Unterhaltung des Herzogs anbefohlenen heiteren Tanzpantomime. In Dessau war vielleicht der beste Einfall des Inszenierungsteams um Herrmann Schneider, dieses Tanzvergnügen so gelangweilt und lustlos abzuspulen, dass der gewaltsame Einbruch der Realität umso stärker wirken konnte – die Dramatik des Lebens übertrifft die der Kunst. Ansonsten aber konnte die bloße Abfilmung des Geschehens per Video und das Abspielen über Monitor kaum der Vermischung virtueller und realer Ebenen gerecht werden – der bloße Einsatz neuer Medien macht noch keine Transzendenz. Die verschenkte sze-nische Umsetzung eines hochinteressanten Werkes schmerzte bei durchaus respektablen musikalischen Leistungen umso mehr. Sängerisch sind Frieder Aurich und Allison Oakes in ihren schwierigen Hauptrollen in Topform – Dessau zeigt sich hier auch als wichtiges Forum für Nachwuchskräfte. Das Orchester der Weimarer Musikhochschule „Franz Liszt“ beißt sich unter dem wirklich in letzter Sekunde eingesprungenen Benjamin Roser zunehmend erfolgreich durch die polyphon verwickelte Partitur, findet vor allem mit seinen Bläsern als auf die Bühne verpflanztes „Tanzorchester“ zum ausbalancierten Klang.
Natürlich, die profilierte Klarheit, die Weill spätestens ab „Mahagonny“ erreichte, ist in diesem überkomplexen, ein wenig abstrakt expressionistischen Idiom noch nicht zu finden. Doch fasziniert schon hier das gekonnte, dem Sujet angemessene Jonglieren mit verschiedenen Stilebenen. Welch unglaubliches Bühnentalent Weill hatte und wieviel uns davon durch die Zeitläufe und vielleicht auch die Anpassung des Komponisten an reduzierte Möglichkeiten verloren gegangen ist, zeigte bezaubernd und bewegend das allererste Musiktheaterwerk des Zwanzigjährigen: von der Ballettpantomime „Die Zaubernacht“ existiert nur noch ein handschriftlicher Klavierauszug mit wenigen Hinweisen auf Handlung und Instrumentation, nach denen Meirion Bowen das solistisch transparente Arrangement für das Kölner Ensemble Contrasts erstellte. Gesungen wird hier nur ein einziges Mal, wenn die Mutter (Ingrid Schmithüsen), die im Traum die Fähigkeit zeigt, sich in ein Pferd zu verwandeln, ihren halbwüchsigen Knaben in den Schlaf wiegt. Ansonsten lässt Weill ganz im Sinne seines Lehrers Busoni die Instrumentalmusik erzählen, die sinnlich schwelgende Melodik mit ausgespartem neoklassizistischem Pulsieren verbindet, Wärme und Distanz. In seiner Inszenierung liest Milan Sládek aus ihr den Zukunftstraum des Jungen, das Erwachen von Sexualität und erster Liebe, bebildert dies liebevoll-ironisch mit bunt herumgaukelnden Blumen, Bienen und Schmetterlingen, erzeugt mit den Mitteln des alten tschechischen Schwarzen Theaters, raffinierten Beleuchtungseffekten und vor allem einer lebendigen, punktgenau und differenziert Verläufe nachzeichnenden Musikalität. „Der Pantomime muss innerlich singen, seine Gesten müssen Melodik und Dynamik enthalten“, ist das Credo des slowakischen Allround-Künstlers.
Mozart gehörte zu Weills Vorbildern, was gerade dem Erstling deutlich anzumerken ist. Wenn Birnbaum in einem seiner zahlreichen „Crossover“-Events eine deutsche Erstaufführung von Peter Greenaways völlig unbekanntem Film „M is for Man, Music, Mozart“ zur Live-Musik von Louis Andriessen präsentiert, so tätigt er damit einen mindestens dreifachen dramaturgischen Schachzug:
Auch Weill liebte Grenzüberschreitungen, wandte filmschnittartige Techniken an, und zum „Dreigroschen“-Drive passen Andriessens poppig-parodistische Repetitionen ebenso gut wie zum barocken Gestus der ebenfalls in Dessau konzertant zu erlebenden „Beggar’s Opera“. So zeigte sich das Festival lehrreicher und zugleich weiter gefächert auf seinen „Protagonisten“ Weill konzentriert als in früheren Jahren, weniger auf konkrete Wirkung im Stadtraum etwa durch Einbeziehung regionaler Laien- und Schüleraktivitäten bezogen, während sein Thema „von der belebenden Wirkung des Geldes“ durch die Vorjahresproduktion „Die Bürgschaft“ genauer und ernsthafter vermittelt wurde als durch die eher fantasiereich verspielten Einblicke in zweifellos spannendes Musiktheater.