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Bogenbau und weißes Rauschen

Untertitel
Donaueschingen 1997: Thema Live-Elektronik
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„Wie geht’s?“ „Gut!“ „Man sieht sich!“ - eine Statistik würde erweisen, daß wohl dies die am meisten gesprochenen Worte in Donaueschingen am Wochenende vom 17. bis 19. Oktober waren. Dann trennten sich die Treffenden und Getroffenen, denn jeder hatte einen das Programm betreffenden oder vom Programm betroffenen Termin: Klangskulpturen über den Ort verteilt („Waren Sie schon im Gußeisentreppenhaus der Fürstlich Fürstenbergischen Kammer bei Bernhard Leitners Akustischer Vermessung?“. „Oder bei Alvin Luciers „Empty Vessels“, leeren Gefäßen, im Sternensaal?“. „Schon von Christina Kubischs „Stille“ in der Orangerie gekostet?“, Pressekonferenzen (ein neuer Kompositionspreis), Buchpräsentation (ein neuer Rihm), das zum zweiten Mal installierte Internet-Cafe (ein neuer Chat), schließlich Abschlußempfang beim Fürsten (mit altadliger Würde „Wer vieles gibt, wird manchem ...“. Aber in Donaueschingen sind die Manchen in der Unterzahl, fast alle wollen alles sehen, hören, riechen, schmecken.Dazwischen gab es auch noch Konzerte, und auf die kam es trotz allem im wesentlichen an. Von Konzert zu Konzert wuchs der Erwartungsdruck auf das „Eigentliche“, von dem man glaubt, daß es Donaueschingen einem schuldig sei. Denn es gab Hörenswertes, Diskussionswürdiges, die Meinungen Spaltendes, kaum aber etwas, was sich als schlagartig frappante Sichtung von Neuland erwiesen hätte. Das Schlußkonzert schürzte schließlich auch diesen Knoten mit drei ebenso konträren wie jedes für sich tragfähigen Konzepten auf überlegenem kompositorischen Niveau. Es wäre freilich an der Zeit, die in Donaueschingen süffig eingebürgerte Frage nach dem „Jahrgang“, eine Öchslegrad-Messung der musikalischen Gesamtqualität, langsam ad acta zu legen. Das hatte vielleicht seine Berechtigung, als über die ästhetische Sorte einigermaßen Konsens bestand und man wirklich nur über künstlerische Sprunghöhe zu befinden hatte (es wäre allerdings zu fragen ob es wirklich jemals so aseptisch war). Heute aber werden Modelle, Denkansätze vorgelegt, die manchmal noch weit vom Stadium eines ausgereiften Ergebnisses entfernt sind. Rohbauten liegen vor, an denen Potenzen für Zukünftiges oder auch fragliche Tendenzen auszumachen sind. Im Aufweisen dieser einzelnen Positionsfindungen hat Donaueschingen heute seine Aufgabe, an der hoffentlich nicht schon wieder höhere Instanzen herumzukriteln beginnen (das letzte Jahr mit seinen rigiden Streichvorhaben steckt uns noch allen in den Knochen). Den Denkrastern von Sponsoren gehorchend wurde ab dem nächsten Jahr ein Kompositions-Förderpreis für Orchesterwerke in zweijährigem Turnus eingerichtet. Die Altersbeschränkung auf 40 Jahre sowie die Höhe von 20.000 Mark (plus 10.000 für Herstellung) sollen hier als pure Mitteilung unkommentiert bleiben. Einen Schwerpunkt der diesjährigen Musiktage stellte Musik in mechanischer und insbesondere in live-elektronischer Vermittlung dar. Sowohl das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung aus Freiburg als auch die Apparaturen des Pariser IRCAM waren aufgeboten und es zeigte sich, daß die französisch-deutschen Unterschiede in bezug auf musikalischen Inhalt, auf ästhetische Ausrichtung (Klangdelikatesse und Bedeutungsschwere wären als mögliche Pole zu benennen) sich unvermindert ins neue Medium hinüberstehlen. Die Ergebnisse waren gleichwohl zumeist mager. Es mag zwar schön sein, daß das IRCAM seinen Spacialisateur (elektronische Klang-Raum-Simulationen) entwickelte, aber zu häufig drängt sich der Eindruck auf, daß die technische Möglichkeit wie ein neues Spielzeug alle Denkansätze zu regulieren beginnt. Der Komponist entwickelt weniger Klänge, die aus ihm selbst, aus seiner Phantasie kommen, sondern solche, die besonders effektvoll wie Polizeihubschrauber über den Köpfen zu kreisen vermögen. Der Musik droht der Charakter einer Gourmet-Dessertplatte, auf der sich die Kringel von Schokoladesoße auf Sahneweiß über den Geschmack hinwegmogeln. Besonders Phillippe Leroux’ Stück „M“ ging in solchem Klangdesign auf und unter, aber der Geist der Verzuckerung wirkte über alle Stücke hinweg bis zu den „Related Rocks“ von Magnus Lindberg. Das ist ein durchweg saftiges, rockartig hartes Stück mit – so meint man auf der Verpackung zu lesen – garantierter Wirksamkeit. Wer im September die Uraufführung in Helsinki hören konnte, mußte überrascht sein vom viel intensiveren und präsenteren elektronischen Zugriff (weder Freiburg noch Paris hatten an Installierungsmühe gespart, die Technik saß vorbildlich). Aber was hat das Stück dadurch gewonnen? Diese Frage wäre im Grunde auch an Pierre Boulez’ „Anthèmes“ für Violine und Elektronik zu stellen. Ein Großteil der kompositorischen Substanz liegt beim Soloinstrument - in kürzerer Form existiert das Stück auch „pur“. Es ist ein beachtliches Werk, das historisch auf Bachs Solosonaten zurückgreift (und etwa bei Bartók Schluß macht). Die Computerisierung brachte – außer einiger wohl gesampleter kontrapunktischer Passagen – nichts außer den Effekten, auf die große Musik verzichten kann. Die Technik wird einst weit mehr von sich und ihrem Anwender fordern. Zum Experimentalstudio: Fast schon zum Demonstrationsstück entwickelte sich hier Günter Steinkes „Arcade“ für Cello und Live-Elektronik – ein Werk, das versiert die Möglichkeiten in Szene setzt (es wurde während eines Stipendiats im Freiburger Studio erarbeitet): Materialsammlung auf hohem Niveau. Doch sowohl Diego Minchiacchi in seinem Klavierstück 4 noch Isabel Mundry in dem sehr schön interpretierten Stück „Gesichter“ (Salome Kammer, Claudia Barainsky, Gesang; Christian Dierstein, Francoise Rivelland, Schlagzeug) vermochten solchem technischen Niveau gerecht zu werden oder ein Pendant zu liefern. Ganz andere Wege ging hingegen der geradezu rauschbesessene Peter Ablinger in einem Stück mit dem fraglos hölzernen Titel „Instrumente und ElektroAkustisch Ortsbezogene Verdichtung“. Engste Überlagerungen von in einer Präambel gespielten Linien – fast surreal theatralisch mit Stuhltausch – führen zu einem stehenden Rauschen, zu dem die Instrumente (zwei Posaunen, zwei Celli) Stimmen hinzufügen. Hieraus ergeben sich Klangverstärkungen, Konturen, die aus dem Rauschen auftauchen – und man weiß nicht recht: Ist es real so oder wird dieser Eindruck im Ohr, im Kopf erzeugt. Ein nachhaltiges Erlebnis. Rauschte es hier, so klapperte es in einem Konzert unter Heranziehung von Player Pianos. Aus Fleisch und Blut war freilich die ganz exzellente Pianistin Irina Kataeva, die ihr differenziertes Artikulationsvermögen in den Dienst von Alexander Wustins „Epistel“, der etwas leichtlaunigen 16. Etüde von Ligeti und von Benedict Masons rätselhaft seanceartigem Stück mit dem kaum minder kryptischen Titel „The Four Slopes of Twice among Gliders of her Gravity“ stellte. Altmeister Ligeti hörte nach der Pause die Version seiner drei Stücke „Monumentum, Selbstportrait, Bewegung“ für Player Piano und mußte wohl selbst feststellen, daß diese Technik bei Conlon Nancarrow besser aufgehoben ist. Dessen Study Nr. 48 a,b,c – zwei selbständige Player Piano Stücke, die sich zu einem dritten überlagern - erwies sich trotz einiger routinierter Floskeln als faszinierend kühnes wie rigoroses Klangwunder. Schon im Eröffnungskonzert – Olav Henzold dirigierte das SWF-Sinfonieorchester – zeigte es sich, daß solch Rigorosität heute die wohl interessantesten Ergebnisse auswirft. Da war Dror Feilers Lärm-Chaos-Stück „Ember“, eine wüste Überlagerung von Partikeln und Phrasen, dröhnend und tönend. Vergleichbar zu Erfahrungen in der Physik mit chaotischen Strukturen bildeten sich auch hier – mit oder ohne Schöpfer? – festere Gestalten aus, Ordnungsmomente griffen und gerieten wieder in den Strudel: ein Aufschrei der Urmaterie (der Che Guevara gewidmet war). Ähnlich kühn verfuhr Antoine Beuger in seiner „Fourth Music for Marcia Hafif“. Stehende Klänge, nach Zufallsprinzipien aufgerichtet, klingen jeweils drei bis vier Sekunden und lassen dann eine etwas längere Pause. Zugleich überdecken sie eine allenfalls aus Raunen wahrnehmbare große Trommel. Nach Ende der Akkordreihe klingt die Trommel im gleichen Rhythmus fort - eine Zeitfolie des Gewesenen mit Fragezeichen ins Zukünftige. Dagegen konnte Manfred Stahnkes „Trace des Sorciers“ aus mikrotonalen Umgebungsassoziationen – eine etwas kraftlose Bastelarbeit – weniger überzeugen und bei Juan Manuel Chávez’ Stück „(D)E(s)Tiempo“ fragte man sich, wie dieses unfertig ratlose Stück über die Zeit überhaupt ins Programm kommen konnte. Diese Frage stellte sich im Schlußkonzert unter Michael Gielen nicht. Frederic Rzewski (Scratch Symphony), Silvia Fómina (AUGURI AQUAE) und Mauricio Kagel (ETUDES 1 - 3) bestätigten alle auf ganz persönliche Weise die hohen in sie gesteckten Erwartungen. Am schwierigsten hatte es zweifellos Rzewski, Gielens Interpretation darf cum grano salis als Auftragsverweigerung und Wiedereinstellungsklage bezeichnet werden. Rzewski hat das Werk dem englischen Komponisten Cornelius Cardew gewidmet, der in den 60ern das Scratch Orchestra gegründet und dort Versuche in Richtung auf selbstorganisiertes Musizieren unternommen hatte. Rzewskis Werk hat vier Sätze. Jeder stellt eine andere Organisationsstruktur vor: 1. Ohne Dirigent; 2. Mit Dirigent; 3. Ohne Dirigent, Spiel nach Zeichen; 4. Pianist führt. Gielen hätte also im insgesamt 25minütigen Stück nur für ihn unverschämte zwei Minuten (Länge des zweiten Satzes) mitmachen dürfen. Dem sich widersetzend übernahm er auch die Oberkontrolle im vierten Satz und ließ im ersten Satz hörbar werden, wie uninspiriert öde ein auf sich gestelltes Orchester mit freigelassener Zeit und innerorchestralen Einsatzmechanismen umzugehen pflegt. Die Uraufführung von Rzewskis „Scratch Symphony“ steht im Grunde noch aus. Silvia Fóminas lang erwartete Arbeit, eine Klang-Bewegung für Stimmen und Orchester, erlebte hingegen eine hochgespannte, den live-elektronisch technischen Apparat extrem herausfordernde Aufführung. Zwei Stimmen (vom Band) beginnen mit zarten und einfachen Rufintervallen, gleiten in einen einfachen Doppelgesang und entwickeln sich zusammen mit den hinzutretenden Orchesterstimmen zu extremer Verdichtung, die die Grenzen der wahrnehmenden Differenzierungsmöglichkeiten zu überschreiten droht. Trotz dieser komplexen Überfrachtung hat man, wie bei kaum einem anderen neokomplexen Werk den sicheren Eindruck eines genau kontrollierenden Ohrs. Es bleibt durchgehört und – mit Übung – durchhörbar. „Auguri Aquae“ war für mich das am genauesten komponierte Werk der Musiktage, beherrscht bis in die letzte Verästelung, eindringlich mit großer formaler Souveränität als still-schöner Bogenbau gestaltet. Dann waren da noch Mauricio Kagels „Etudes 1–3“, gleichsam ein vielschichtig verschachteltes, grotesk grundiertes Übungswerk für die aussterbende Spezies der Unterhaltungsorchester. In rhythmische Grundraster im Geiste lateinamerikanischer Tänze werden wie auf eine Leine die sattsam bekannten Orchestergags, fast als ob die gesamte Gestalt vom Sampler kommt, aufgehängt: Ein Dorfmusikanten-Sextett des 20. Jahrhunderts, ebenso überlegen im Umgang mit den abgegriffenen Mitteln wie mit den unterlaufenden Fehlern. Die Farbe erweist sich als Schminke, wo sie nicht mehr hält enthüllt ihr Abblättern die Blässe des unterhaltungsmusikalischen Alltags. Diese Haltung fand überraschenderweise im Jazz-Konzert ein Pendant, wo im ersten Teil die junge Pianistin Sylvie Courvoisier in „Ocre de Barbarie“ einen klappernden Reigen über verdrehte Puppenglieder, schrullige Drehorgelmodelle und harte Staccatopassagen auf die Bühne brachte: mit den Freuden und der sentimentalen Trauer über eine durchmechanisierte Welt. So war Donaueschingen trotz manch unbefriedigender Ergebnisse dennoch von der Lust neuer Perspektivenfindung getragen.

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