Seit einigen Jahren ist Bruckners neunte Sinfonie zum Problem geworden. Mit der wachsenden Kenntnis von Entwürfen, fertig komponierten Teilen und fest umrissenen Lücken mochte man sich nicht mehr ins Schicksal ergeben, dass Gott dem Komponisten nach dem abgeklärt endenden Adagio den Griffel aus der Hand nahm. Bruckner plante, das verdichtete sich immer mehr, Schwerwiegendes.
Es gibt Zeiten in der Musikgeschichte, die für etwas reif geworden sind. Meist bezieht sich dies auf das Begreifen eines Werks, zumindest auf das Akzeptieren desselben. So mussten zum Beispiel Beethovens späte Quartette, die letzten Arbeiten Schuberts oder auch das Werk von Anton Webern lange warten, ehe sich die Ohren einer etwas breiteren Öffentlichkeit für sie öffneten. Doch es existieren auch musikalische Konzeptionen, die vom Komponisten selbst nicht mehr zu Ende ausgeführt werden konnten, die aber als einmal Gedachtes gleichsam imaginär vorliegen. Das Finale von Bruckners neunter Sinfonie ist so ein Fall. An eine Vervollständigung hat sich nach Bruckners Ableben zu Recht niemand gewagt. In den letzten zehn Jahren aber begann in musikwissenschaftlichen Kreisen eine rege Sammeltätigkeit. Man fand Skizzen und Entwürfe, fertig geschriebene Passagen und immer wieder auch große Lücken, die zwar in ihren zeitlichen Proportionen kenntlich wurden, für die aber festgelegtes Tonmaterial weitgehend fehlte. Und hier begannen die Debatten um Werktreue, was immer dies auch sei. Akribisch und wissenschaftlich genau hat sich in den letzten Jahren in erster Linie Nikolaus Harnoncourt an die Front gewagt. So stellte er das Finale vor, spielte Passagen, ließ immer wieder Löcher. Ein Gerippe der Musik wurde kenntlich, ahnbar wurde die Kühnheit des Entwurfs, die Schroffheit der harmonischen Anlage, die Zwingkraft der thematischen Bündelung.
Wirklich hat Bruckner, dieser arme Irre, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben (so Brahms über Bruckner), sein „dem lieben Gott“ gewidmetes Werk im Finale die Krone aufzusetzen versucht. Letztlich auszuführen vermochte der schwerkranke Bruckner diesen Gewaltakt nicht mehr, obwohl er Freunden immer wieder Passagen aus dem Schluss-Satz vorspielte: auch die Coda als Türmung thematischer Gestalten aus seinem Lebenswerk, von der er nichts mehr zu Papier brachte. Gedacht also war das Werk zu Ende. Fleisch (oder in Noten fixierter Klang) geworden aber war es nicht. Wie aber steht es um Dinge in der Welt, die, wie ein mathematischer Beweis, schon einmal gedanklich ausgeführt waren, aber als nicht Niedergeschriebenes verloren sind? Haben sie eine heimliche Existenz? Jedes aufgeklärte Bewusstsein wird dies vehement verneinen, aber eben dieses Bewusstsein hat ja in letzter Zeit einige Schrammen bekommen.
Der mitunter auch komponierende Dirigent Peter Jan Marthé, der bei Celibidache Unterricht nahm, der nach Indien zu Ustad Ameer Mohamed Khan ging, um tiefere Wesensformen des Klangs zu erfahren, ist ein Bruckner-Fanatiker. Als er auszog in die Welt spiritueller Klangerfahrung, hatte er nur Bruckner im Gepäck, im Bewusstsein, dass in erster Linie dort reines spirituelles Klangempfinden in die Musik des Abendlandes eingedrungen war. Doch der Schluss-Satz der Neunten, das war ihm lange klar, würde wohl nie zu entschlüsseln sein. Doch nach seiner gro-ßen Arbeit an der Dritten wurden immer wieder Anfragen an ihn gestellt. Und nach eingehender Beschäftigung mit dem Material stellte sich bei ihm plötzlich die Überzeugung ein, dass es sich bei der Neunten („Da werden sie sich giften“, hat Bruckner einmal über das Werk geäußert und meinte wohl Feinde wie auch Parteigänger) um ein auskomponiertes archaisches Initiationsritual handele. Wie auch immer man zu dieser These stehen mag, für Marthé war es ein Schlüssel, sich dem unvollendeten Werk zu nähern.
„Ich begann die Arbeit am Finale wohl mit ähnlichen Gefühlen wie die Initiatoren des Dresdner Unterfangens, aus einer beängstigend chaotischen Masse von Steinen das Prachtgebilde der Frauenkirche hochzuziehen“, meinte Marthé. Das ist eine schlichte Untertreibung, denn bei der Frauenkirche handelte es sich um ein klar berechenbares Puzzle aus fertig behauenen Steinen. Das Finale der Neunten besitzt auch solche Steine, von anderen Teilen aber ist allenfalls der rohe Stein oder gar nur der Steinbruch bekannt. Aber ein anderes Beispiel mag einfallen. Vom jungen Morton Feldman gibt es Partituren, die nur die zeitlichen Dimensionen und ein paar Hinweise auf die Art des Tones vorschreiben.
Der Rest bleibt beim Interpreten, aber wehe, wenn er nicht den passenden Klang findet! Gut, mag man sagen, das ist Konzeption eines offenen Werks, Bruckner aber hatte eine in sich ausformulierte Gestalt im Sinn. Doch warum sollte man sich nicht mit dieser Offenheit, die ein musikalisches Bewusstsein des 20. Jahrhunderts sich erst erobern musste, dem Finale nähern? Es ist freilich ein Unternehmen, in dem sich kindliche Naivität mit der Unbefangenheit eines frechen Akts verbünden. „Trau’ di nur! Sperr deine Ohrwaschl auf und schreib oanfoch nieda, wia’s in dir drinnen is. s’Gwantl dazua host jo dann eh von mir!“ Diese innere Stimme (Bruckners) war für Marthé Auftrag.
Nichts ist leichter, ja trivialer als der Vorwurf, dass es sich hier in vielen Passagen nicht um Bruckner handelt. Das behauptet Marthé auch gar nicht. Er ist vehementer Kritiker des klassischen Musikbetriebs, der im Grunde nur seine Urnen verwaltet und darüber das Signum der Werktreue setzt. Für ihn muss Musik leben, sie muss vor allem wirken. Und klar ist, dass das Finale der Neunten nicht als matter und knöcherner Beschluss der Sinfonie konzipiert war, sondern als fulminante, erd- und himmelnahe, apokalyptische Krönung des Werks: Musik, die alle Dimensionen des bisherigen Bruckner’schen Denkens sprengt. Dieser existentiell erschütternden Wirkung nun spürte Marthé nach und wirklich gelang es ihm im Gegensatz zu den bisherigen Versuchen, die Wucht, die beißenden Kühnheiten, die überraschenden und überwältigenden Wendungen des Finales in hörbare Gestalt zu setzen. Eine Stunde und fünfzig Minuten dauerte bei ihm die ganze Sinfonie und allein schon durch diese kaum mehr als himmlisch (so Schumann über Schuberts C-Dur-Sinfonie) zu bezeichnende Länge rückte sie in die Nähe eines rituellen Akts.
Nach Fertigstellung des Finales verschoben sich natürlich die Dimensionen des ganzen Werks. Der erste Satz ist Exposition aus dem Vormusikalischen heraus, der zweite elementare Wucht, der dritte ist in dissonanten Schichtklängen durchlittener Gang zur Loslösung von dieser Welt (dieses Immer-Leichter-Werden des Klangs am Schluss besonders zwingend). Das aber waren nun allein Vorstufen zu einer gewaltigen Bündelung zurück ins Leben, zurück auf die Erde im Klammergriff von Himmel und Hölle oder, wenn man es profaner will, von Hoffnung und Verzweiflung.
So ließ Marthé das Finale mit einer fast gewalttätigen Introduktion in der Pauke beginnen, ehe Bruckners kühne, chaosnahe thematische Formulierungen, die Zwölftönigkeit oder zumindest radikales Überschreiten der Tonalität vorwegnehmen, Raum fassen. Die drei Themengruppen schritten gleichsam Sphären ab: Instabilität, Abgehobenheit und choralhafte Zuversicht. Es folgte ein kühner, aber durchaus schlüssiger Mix aus Bruckners Vorgaben und aus Ergänzungen, der in der Durchführung, vor allem in der Fuge, zu katastrophischen Verstrickungen, zu elementaren Reibungen und Zusammenbrüchen führte, wie sie selbst bei Mahler kaum zu hören sind. Die Gewalt der Konzeption dieses Satzes wurde sinnliche Wirklichkeit. Und auch an eine Coda, von der nichts außer mündlichen Berichten (Bruckner spielte sie vor!) vorliegt, hat sich Marthé gewagt. Hier nahm er das in der Erzählung erwähnte thematische Material und orientierte sich sonst deutlich an der Coda der Achten, die ebenfalls heterogenes thematisches Material zusammen bindet. Denn auf diese die Zeit ins Vertikale wendende Coda läuft der ganze Satz hinaus, löst hier letztlich seine Wirkungsmechanismen. Ein Abbruch davor hätte, so Marthé, diesen Bogen offen gelassen.
Es liegt also etwas vor und Bruckners Prophezeiung „Da werden sie sich giften“ dürfte auf neue Art Wirklichkeit werden. Marthé aber begreift sein Tun nicht zuletzt als Aufforderung an die Aufführungspraxis, die Bruckner’sche Neunte unter anderen Perspektiven zu sehen. Wer im Adagio ihre Erfüllung sieht, dürfte falsch liegen. Es heißt also, am Rätsel weiterzuarbeiten und die Schlüssel zu vermehren.