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Brahms wieder auf die Füße gestellt

Untertitel
Internationaler Brahms-Kongreß Hamburg
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Johannes Brahms, der Bürgerliche und zugleich Unangepaßte, der musikalische Bewahrer und Erneuerer, der Konservative und Fortschrittliche. Ein keineswegs vernachlässigter Komponist, präsent in Konzertleben und Hausmusik, und doch weist das gängige Brahms-Bild weiße Flecken auf. Zum Beispiel harrt der Komponist bis heute einer historischen Einordnung, um seinen Individualstil klarer von dem Zeitstil trennen zu können; zu verengt war die Perspektive bisher, zu einseitig wurde Brahms allein im Kontext seiner zu Antipoden stilisierten Zeitgenossen Wagner und Bruckner bewertet. Beim Hamburger Kongreß suchte man denn auch - bei aller Differenz in Methodik und Ansatz -, Brahms aus seiner Zeit heraus zu begreifen. Ludwig Finscher verdeutlichte in seinem Vortrag zur Kunstanschauung des Komponisten dessen beispiellosen sozialen Aufstieg dank Bildungshunger und Leistungswillen aus dem proletarischen Hamburger Gängeviertel zum gefeierten Komponisten in Wien mit „dezidiert großbürgerlichem Umgang“ - ganz im Unterschied zu Bruckner, der im Sozialen stets er selbst, „ohne Kontakte zum Bürgertum“ geblieben sei. Neben Referaten zu Aufführungsgeschichte und Aufführungspraxis, zu musikgeschichtlichen Aspekten oder zur Rezeptionsgeschichte wurden in der Hansestadt alle Werkgruppen und Gattungen des Brahms’schen Gesamtwerks punktuell bzw. exemplarisch anhand ausgewählter Werke behandelt. Christian Martin Schmidt von der TU Berlin zeigte die subtile harmonische Formung im ersten Satz des Requiems, durch die positiven Textaussagen eine bestätigende Harmonik, negativen eine vage, unbestimmte zugeteilt ist. Und James Webster aus New York entdeckte in der Alt-Rhapsodie nicht nur motivische Bezüge zu Wagners Tristan, sondern erstmals jenen Topos, den Brahms ab diesem 1869 entstandenem chorsinfonischen Werk noch mehrmals einsetzen sollte: die Wendung von c-Moll nach C-Dur als psychologischer Aufbruch und Wahrnehmung des Erhabenen. Zentralen Raum gab man in Hamburg vor allem auch der Diskussion editorischer Probleme, die sich mit der Herausgabe der „Neuen Johannes-Brahms-Gesamtausgabe“ stellen. Die Notwendigkeit dieser aufwendigen, auf 60-65 Bände angelegten Edition, die im Münchner Henle-Verlag erscheint, wurde mehrfach herausgestellt. Michael Struck, Redakteur bei der Kieler Forschungsstelle der Johannes-Brahms-Gesamtausgabe, wies auf den großen Zeitdruck hin, unter dem die alte Gesamtausgabe zwangsläufig nicht ganz fehlerfrei entstanden war, und Siegfried Kross sprach gar von einer „historischen Chance“ da mit der heutigen Vielzahl bedeutender Brahms-Forscher die personellen Voraussetzungen für eine neue Gesamtausgabe so gut seien wie nie zuvor. Erstmals könnten nun auch sämtliche Brahms-Bearbeitungen fremder Werke aufgenommen werden. Bisher erschienen ist die 1. Symphonie, herausgegeben von Robert Pascall. Er entdeckte in der alten Ausgabe nicht weniger als 281 Abweichungen in Dynamik und Artikulation von Brahms’ Handexemplar des Erstdrucks. Und auch für den reinen Notentext konnte er Korrekturen liefern: so im Finale, wo das Horn am Ende der Reprise nun statt der Kombination aus Hornterzen und -quinten ausschließlich die intendierten Hornquinten spielt. Vor allem die von Brahms beim Kompositionsprozeß oft in Eile notierten Crescendo- und Decrescendo-Gabeln bereiten den Herausgebern hinsichtlich ihrer genauen Positionierung und Länge derzeit einiges Kopfzerbrechen, wie Wolf-Dieter Seiffert vom Henle-Verlag anschaulich machte. Dennoch versucht man penibel, Brahms’ Intentionen zu ermitteln und Fehler, die sich beim Drucklegungsprozeß in die alte Gesamtausgabe eingeschlichen haben, zu eliminieren. Die neue Edition dürfte dann für die Aufführungspraxis so manches Umdenken nach sich ziehen.

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