Wenn das Publikum langsam den Zuschauerraum füllt, steht er schon da: Werther, Kultfigur des späten 18. Jahrhunderts im autobiographisch gefärbten Skandalroman von Johann Wolfgang von Goethe, Maßstab und Vorbild aller unsterblich Liebenden. Aber wie im Theater Bremen der Tenor Luis Olivares Sandoval das in der Regie von Felix Rothenhäusler macht, zeigt bereits, aus welchem verkorksten Psychoholz er geschnitzt ist:
Zu den Klängen des Orchesters, die schon die kommende Katastrophe zeigen, schaut er aggressiv, bedrohlich, narzistisch, besitzergreifend und misstrauisch ins Publikum. „Er tickt nicht richtig“, werden die Freunde von Charlottes Familie über ihn sagen. Werther steht auf einem gezimmerten Rechteck, auf dem sich dann alles abspielt, es gibt kein Bühnenbild. Das erlaubt Emotionen pur für das 1892 uraufgeführte „Drame Lyrique“ von Jules Massenet, das seit 1970 eine ungebrochen erfolgreiche Aufführungsgeschichte nachweisen kann.
Rothenhäusler gelingt es, mit seinen Protagonisten Nadine Lehner als Charlotte und Sandoval als Werther, aus der auch reichlich überholten Dreieckgeschichte, in der Werther die verheiratete Charlotte ohne jede Hoffnung liebt und sich am Ende erschießt, einen überragend spannenden Seelenkrimi zu gestalten. Beide verfügen auf der Basis der subtil eingesetzten Leitmotive über eine solche Vielzahl von Zwischentönen, beziehungsweise Gefühlen, dass die Spannung über zweieinhalb Stunden nie nachlässt. Und beiden gelingt es unerhört gut, die großen Gesänge aus den Seelenregungen herauskommen zu lassen. Das kann man nicht besser machen, und dies macht unter anderem die Größe dieser Aufführung aus.
Besonders bestechend an der Inszenierung ist die Einbeziehung des Publikums, immer wieder richten sich Lehner – besonders in ihrer großen Briefszene – oder Sandoval auch erzählend ans Publikum: beide sind Teile von uns selbst. Das ist auch mit unaufdringlicher Lichtunterstützung konsequent und gut gemacht, es gibt keine Chance zur Haltung: das gehe uns nichts mehr an. Doch, auch wir sind verantwortlich für die rigiden Moralvorstellungen, mit denen Charlotte ihrer sterbenden Mutter die Ehe mit dem lieben, aber stoffeligen Albert versprochen hat, Moralvorstellungen, die solche Außenseiter wie Werther und letztendlich auch Charlotte gebiert, „Brandraketen“ hat Goethe sie genannt.
Unbeschreiblich, wie im berühmten Mondduett Charlotte an Werther heranrutscht und sofort wieder Abstand nimmt; unbeschreiblich, wie nach seiner Rückkunft die beiden an der Kante dieses Rechtecks einander umschleichen. Präzise fallen da die familiären „Knaller“ hinein: Wenn Charlottes Schwester, der lustige Wirbelwind Sophie (glänzend Marysol Schalit) den Weihnachtsbaum schmückt, nein, eher mit Lametta beschmeißt; wenn die Kinder von Israel singen; wenn Albert und Werther sich in die Wolle kriegen. Und magisch der Moment, wenn Charlotte anfängt, auf der Stelle zu laufen, um den verwundeten Werther noch zu erreichen. Ein doppeldeutiger Moment, denn gleichzeitig rennt sie aus ihrem System heraus: Werther hat sie mit seiner „terroristischen“ – so der Regisseur – Leidenschaft voll im Griff. Peter Schöne ist mit seinem spießigen Zynismus gegenüber Werther ein klangschöner und glaubwürdiger Albert.
Die Musik ist zum Teil süßlich, verführerisch und deutlich verankert in der „Belle époque“ – in diesen Aspekten ist sie beste Filmmusik und bleibt Geschmackssache. Laut auffahrend, geradezu brutal aber in der Katastrophe: das auf der Bühne sitzende Orchester macht das unter der Leitung von Daniel Mayr wunderbar. Zu Recht Ovationen.
- Die nächsten Aufführungen: 20.,29. und 31. Mai, 3., 11., 15., 19. und zum letzten Mal am 23. Juni