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Foto: Ronny Ristok
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Bravouröser Untergang: Das Theater Altenburg gleitet als „Titanic“ in die Umbauphase

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Wilhelm Dieter Sieberts „Untergang der Titanic“ wird zu Unrecht belächelt. Die musikalische Dramaturgie auf das vom Komponisten mit Christian Rateuke und Hartmann Schmige verfasste Libretto durchmischt Dokumentation, Melodram und interaktives Theater. Zudem hat diese ‚große Oper mit Salonorchester‘ effiziente Wirkungen wie heute gängige Pädagogik- und Vermittlungsformate: Theaterführung auf und hinter die Bühne, Demonstrationen einer Physiognomie des Singens und der Anatomie theatraler Parameter, vor allem aber jede Menge Spaß. Das Theater Altenburg-Gera schickt mit einem riesigen Aufgebot an Solisten, Chören, Statisten und gleich vier Regieassistenten auf die fiktive Reise über den Atlantik. Roland H. Dippel hat die Details.

Plakativ und sentimental wird die Musik, wenn das Salonorchester in alter Opernmanier von der koloristisch-illustrierenden Perspektive in die Psychen der First-Class-Passagiere abtaucht. Dabei bleibt sie aber weitaus ehrlicher als andere in Opposition zur experimentellen Musik entstandenen Werke. Denn Wilhelm Dieter Siebert (1931-2011) wollte in Simultanszenen und Dialogen eine anspringende Direktheit ‚wie im Kino‘. Daraus machte er in seinen umgangssprachlich bis flapsig formulierten Konzept-Texten kein Hehl. Vom Theater Altenburg war vor der Renovierung des Hauses, das zum 150. Jubiläum 2021 in frischem Glanz erstrahlen soll, kein aufwändigerer Abschied denkbar. Publikumsbindung total. Wenn die Matrosen, die Passagiere in Pferdekutsche und Mannschaft von dem Theater in der hellglänzenden Abendsonne aufziehen, ist der dem höher gelegenen Schloss zugeneigte Theaterplatz rammelvoll. Auch mit Passanten, die von den für die einstige Residenzstadt ungewöhnlich großen Menschenmengen angezogen werden.

Oper mit Salonorchester

Daran wird man sich erinnern während der Umbauzeit, wenn die Sparten des Theaters Altenburg-Gera in einem Theaterzelt auf dem Festplatz spielen. Jetzt ist der Zuschauerraum in violettes Licht getaucht. Alle personellen Ressourcen wurden zusammengetrommelt, um Fülle zu erzeugen: Kinder im Rettungsboot, Matrosen am Einlass und natürlich das temporär größte Salonorchester Deutschlands sind Mitakteure jener Schiffskatastrophe, die den Glauben an den Segen der Technik 1912 erschütterte.

Die wahrscheinlich allererste Mitmachoper überhaupt, deren Uraufführungsserie ab 1979 in der Deutschen Oper Berlin nicht nur für Generalintendant Kay Kuntze ein prägendes Erlebnis war, ist ein ideales Education- und Vermittlungsprojekt. Wann sieht man schon in Greifweite, wie sich die Sopranistin Miriam Zubieta im Tosca-ähnlicher Neo-Empire-Robe als Lady Astor und Gustavo Mordente Eda als ihr Lover erst einander in die Arme fallen und dann zu Boden gehen? Wann begrüßt einen schon einmal ein Bass-Hüne wie Ulrich Burdack als Kapitän mit Handschlag zum Bordball, der nach der Kollision der Titanic mit einem Eisberg in der Evakuierung auf die Rettungsboote endet? Die Türen zwischen den Rängen und Foyers des Hufeisentheaters sind offen und geben den Blick frei auf Simultanszenen. Statisten sind mit Eifer dabei wie selten und sogar die hier quasi mit Auftrittsverpflichtung geforderte Catering-Crew darf sich als Star fühlen.

Interaktive Overtourism-Comedy

Eine zur Realität gewordene Synthese von fiktivem Schiff und haptisch realem Theaterschiff. Unrealistisch sind bei dieser Vorstellung nur die Temperaturen. Bei hochsommerlichen 36° C beginnt der Einzug der Passagiere auf der Titanic. Diese nehmen nach dem Einzug erst Platz auf der Bühne, werden dann zum Ball im ersten Rang gebeten und geraten schließlich durch dunkle Gänge ins Freie. Tiffany trifft auf Neckermann. Die zu den Konversationen in der ersten Klasse gereichten Eisbecher stehen nach Gebrauch, erkennbar als Foot-Attrappe im Requisiten-Fach. Für das Publikum gibt es (im Eintrittspreis inbegriffen) echten Sekt und Capri-Eis am Stiel. So gerät Sieberts Kritik an der Technik-Gläubigkeit des 20. Jahrhunderts zur interaktiven Overtourism-Comedy. Diese Mitmachoper generiert also bei jeder Aufführung frische und kaum steuerbare Bedeutungsebenen. So stark ist die Breitenwirkung des Mythos‘ vom Untergang der Titanic am 15. April 1912, dass man die in Dialoge und Rezitationen eingestreuten Fakten zur Physiognomie und sozialen Topographie alle zu kennen glaubt.

Für Regisseur Martin Schüler und Thomas Wicklein als musikalischer Leitung bedeutet die Realisierung vor allem Organisation: Wer steht, wer fällt, wer exaltiert sich wo und wie bahnt man sich am besten den Weg von der Spielfläche im Parkett zum nächsten Einsatz? Das gilt für alle bis zum Blicke ziehenden Geiger, der mit schmelzenden Tönen und Blicken hier Puccini spielt. Der Musik bekommen die leichten durch Entfernungen und Fernwirkungen verursachten Präzisionstrübungen sogar sehr gut. Die ach so künstliche Oper erhält auf einmal einen ganz normalen Anstrich. Nirgends sind gesungene Dialoge so natürlich wie auf Sieberts Titanic.

In dem rundum gewinnenden Ensemble gibt es einige neue Gesichter: Auffallend die feine Intensität von Abenaa Prempeh und damit ganz das Gegenteil des mehrere Szenen mit angemessen professioneller Penetranz an sich reißenden Bruno Beeke als Investigativ-Reporter. Anne Preuß ist eine gewinnend kapriziöse Molly Guggenheim, der man an der Seite ihres spröden Gatten (Kai Wefer) alles verzeihen würde. Eigentlich aber ist es ungerecht, Einzelleistungen aus dieser rundum glänzenden Ensembleleistung bei diesem Theaterfest hervorzuheben. Nach der Sommerpause gibt es in und um das Theater Gera eine weitere Vorstellungsserie.

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