Die nur einen Tag auseinander liegende Abfolge von Berliner Britten-Premieren, ein Jahr nach dem 100. Geburtstag des im Jahre 1976 verstorbenen Komponisten, hat die Staatsoper mit „The Turn of the Screw“ mit knappem Vorsprung gewonnen. Nur einen Tag zuvor erfolgte die Premiere der Deutschen Oper Berlin mit „Die Schändung der Lucretia“, ebenfalls in englischer Originalsprache.
Die durch den Umbau der Obermaschinerie zu einem ungewöhnlichen Spielplan an externen Spielstätten gezwungene Deutsche Oper punktet mit der Wahl der Kammeroper für extrem kleines Orchester – nur 13 Instrumentalisten –, die sonst wohl schwerlich den Weg ins Haus an der Bismarckstraße gefunden hätte, aber im Haus der Berliner Festspiele, des ehemaligen „Theaters der Freien Volksbühne“, aufgrund des extrem engen Orchestergrabens, angebracht schien. Gleichwohl verwundert es, wie die Deutsche Oper es schafft, ihr Stammpublikum und alle Abonnenten mit nur zwei Aufführungen einer Produktion zufrieden stellen zu können.
Brittens erste – nach der vom Komponisten zurückgezogenen und später überarbeiteten Erstlingsoper „Paul Bunyan“–, 1945 uraufgeführte Oper handelt von der Gemahlin des römischen Generals Collatinus, die sich – anlässlich einer Wette zwischen den Feldherren, bei der sich alle Ehefrauen als moralisch verdorben erweisen – als einzig treu liebende Ehefrau erweist. Der etruskische Prinz Tarquinius verschafft sich unter einem Vorwand Zutritt zu ihr. Als sein Verführungsversuch scheitert, vergewaltigt er sie. Obgleich Lucretias Gatte Collatinus Verständnis zeigt, nimmt sich Lucretia aufgrund ihres Empfindens von Schande das Leben.
Zeitbedingt zeichnet der Librettist Ronald Duncan (nach dem Schauspiel „Le Viol de Lucrèce“ von André Obey) den skrupellosen etruskischen Imperator als semitischen Antagonisten christlicher Werte. Brittens Komposition folgt dieser Schwarzweißzeichnung nur bedingt; dagegen charakterisiert der dann den Bösewicht Peter Quint in „The Turn of the Screw“ (1954) mit synagogenartigen Melismengesang. Deutlich Bezug nehmend auf die attische Tragödie, lässt Britten einen auf zwei Choreophoren reduzierten griechischen Chor die Handlung breit erläutern und großenteils verdoppeln. In der Inszenierung der Filmemacherin Fiona Shaw betreiben die beiden Sängerdarsteller – Thomas Blondelle und Ingela Brimberg – als heutige Zeitgenossen im doppelten Sinne Archeologie: sie graben die Grundmauern eines römischen Hauses aus und bringen einem heutigen Publikum die entrückte Geschichte nahe. Ihre Empathie in die Haupthandlungsträger geht so weit, dass sie trotz gesungener Berufung auf das Christentum, den Protagonisten Lucretia und Tarquinius gleich, übereinander herfallen und sich begatten. Am Ende breiten sie die Armknochen und einen Erinnerungskopf der Lucretia in Kreuzesform aus. So weit war Peter Pears, Brittens Lebenspartner, der in der Glyndebourner Uraufführung den Tenor-Chorpart übernommen hatte, selbstverständlich noch nicht gegangen.
Die Neuinszenierung, ausgestattet von Michael Levine und Nicky Gillibrand, hatte als Produktion des Glyndebourne Festivals zum Britten-Jahr im Oktober 2013 Premiere. Für die Berliner Einstudierung der Inszenierung von Fiona Shaw zeichnet Ian Rutherford als „Movement Director“ verantwortlich.
Nach „Peter Grimes“ und „Billy Budd“ an der Deutschen Oper Berlin, zeigt „Die Schändung der Lucretia“ mit welcher eine Frau in den Titel und scheinbar auch in den Vordergrund der Handlung gerückt ist, bereits Idiome des Komponisten. Gleichwohl hat Britten mit dem ins alte Rom, musikalisch aber sehr gemäßigt ins 20. Jahrhundert verlagerten Beweis und Gegenbeweis zu „Così fan tutte“ seine klanglichen Spezifika noch nicht voll gefunden. Formal addiert er nach barockem Muster Rezitative und Arien. Dirigent Nicholas Carter setzt klanglich auf Brittensche Idiome und sorgt mit den solistischen Instrumentalisten der Deutschen Oper Berlin für Klangfülle; den erforderlichen großen Bogen vermag er hingegen kaum zu schlagen.
All zu deutlich erweisen sich die erklärenden Chorszenen und auch sehr schön gesungenen Ensembles – namentlich von Elena Tsaliagova als Lucretias Dienerin Lucia und Ronnita Miller als Amme Bianca, im Verein mit Andrew Harris als Collatinus und Seth Carico als Junius – als redundant.
Duncan Rock als Tarquinius forciert auf Kosten fließender Stimmführung, Katarina Bradic in der Titelrolle agiert sympathieheischend heutig, intoniert aber mit arg unterschiedlich timbrierten Registern.
Bei der zweiten Aufführung gab es am Ende des durch eine Pause unnötig in die Länge gestreckten Abends ausschließlich Zustimmung.