Dreierlei kam an Lübecks Musikhochschule (MHL) glücklich zusammen, ein aufrüttelndes Bühnenwerk mit brillanter Musik, eine fesselnde Regiearbeit und eine qualitativ höchst niveauvolle Darbietung. Benjamin Brittens „The Rape of Lucretia“ war erarbeitet worden. Anthony Pilavachi führte Regie und hatte die Kammeroper mit den Studenten beeindruckend szenisch realisiert (Premiere: 15. Juni 2018). Die Ausführenden schließlich waren eine junge Gesangselite, die von sehr sicheren Instrumentalisten unterstützt wurden.
Ein sagenhaftes Geschehen
Das zweiaktige Stück basiert auf einer Sage aus der Gründungszeit Roms, die ins Jahr 509 vor Christus zurückreicht. Erzählt wird von der Schändung der schönen, zugleich tugendhaften Römerin Lucretia durch den etruskischen Prinzen Tarquinius, ein Stoff, der bekanntlich in vielerlei Form in der Kunst nachwirkte. Collatinus, General im Sold des Prinzen und Ehemann der treuen Lucretia, muss nach einem Feldzug den Neid anderer ertragen, die von der Untreue ihrer Frauen erfahren hatten. Vor allem Junius ist es, der den als Frauenheld bekannten Prinzen nun anstachelt, sein Geschick bei Lucretia zu versuchen. Der nimmt die Herausforderung an und reitet nach Rom. Unter einem Vorwand sucht er in ihrem Haus Einlass und bedrängt sie. Sie weist ihn vehement zurück. Nachts aber dringt er wieder bei ihr ein und vergewaltigt sie. Besorgt darüber, dass der Prinz verschwunden ist, kehrt Collatinus ahnungsvoll am Morgen nach Rom zurück. Lucretia berichtet ihm von dem Geschehen. Da er sie nicht trösten kann, ersticht sie sich voller Scham. Eine widersinnige Pointe ist, dass Junius die Situation nutzt, das Volk gegen die etruskische Herrschaft aufstachelt und die Macht übernimmt.
Vielschichtige Bühnenhandlung, reizvolle Musik
Brittens Libretto, das der amerikanische Dichter Robert Duncan nach einem Schauspiel des Franzosen André Obey aus dem Jahre 1931 verfasste, hat sechs handelnde Personen. Lucretia ist dabei und zwei ihrer Domestiken von sehr unterschiedlichem Charakter. Bianca, ihre Amme, hat ein kupplerisches Wesen und nützt dem Prinzen, bietet sich ihm sogar selbst an. Das Zimmermädchen Lucia dagegen ist ihrer Herrin ergeben, muss aber ohnmächtig zusehen. Ihnen stehen drei männliche Gegenspieler gegenüber, der gewissenlose Prinz, der ihn skrupellos anstiftende Junius und der schwach und bieder wirkende Collatinus. Das eröffnet eine auch psychologisch vielschichtige Handlung, die die intensive Musik Brittens abwechslungsreich begleitet. Rezitativische Passagen werden vom Klavier unterstützt, während die Instrumente mal lautmalerisch, mal gliedernd, immer aber farbig das Agieren der Spieler beschreiben oder untermalen. Ein grotesker Walzer der Flöte ist darunter, begleitet von akkordisch stampfenden Streichern, eine Art Lullaby in Passacaglia-Manier mit gezupften Geigen, zu dem Lucretia nachtfertig gemacht wird oder ein bizarres Violinsolo, mit der die Seelenqual der mitleidenden Beobachterin verständlich wird. Zum anderen begleiten zwei Figuren die Handlung, Reste des Chores im antiken Theater. Aber sie kommentieren nicht nur, sie greifen intensiv in das Geschehen ein. Der männliche Teil ist aktiv am Aufstacheln, am Zuspitzen beteiligt, zeigt Lüsternheit und zugleich seine Verachtung für alle, für den Prinzen, für Junius, sogar für den leidenden Collatinus. Die weibliche Stimme dagegen ergreift für Lucretia Partei, versucht sie sogar körperlich zu beschützen. Beider Handeln ist zudem Ausdruck einer christlich fundamentierten Gesinnung, womit das antike Geschehen überblendet wird, künstlerisch gestaltet in unisonen Partien zu Beginn und am Schluss.
Eine bemerkenswerte Regie
Anthony Pilavachi war mit dieser Aufgabe nach Lübeck zurückgekehrt, wo er am Theater mit etlichen Inszenierungen große Erfolge erzielte, unter anderem mit dem „Ring“ und zuletzt 2015 mit Berlioz‘ „La Damnation de Faust“. Jetzt wählte er eine geschickte Grundanordnung. Brittens 1946 in Glyndebourne uraufgeführtes Werk benötigt immerhin acht Sänger*innen, die hier auf kleinster Bühne ohne Kulissen auftreten mussten, und ein kleines Kammerensemble, das dreigeteilt aufgestellt wurde. Links neben den Zuschauern saßen die Bläser mit Flöte, Klarinette, Fagott und Horn. Auf der Bühne standen im rechten Hintergrund die Perkussionsinstrumente und rechts waren die Saiteninstrumente positioniert, zwei Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabass sowie Harfe und das Klavier für die Rezitative. Von ihm aus leitete Robert Roche, Professor für Korrepetition an der MHL, das musikalische Geschehen, das er auch subtil einstudiert hatte.
Das feinsinnig arrangierte Spiel benötigte nur wenige Requisiten. Auf der Bühne im Halbkreis angeordnete Stühle gerieten im Laufe des Spiels, dem sittlichen Verfall entsprechend, immer mehr in Unordnung und ein weißes Tuch wurde Lucretias Bett. Blumen gaben Farben. Mit allen wurde ausdrucksvoll gespielt, bis hin zu dem Strauß, mit dem der Gatte heimkehrt. Winzige Gesten vertieften das Ausgesagte, wenn etwa Lucretia für einen Moment ihre Hand auf die Schulter von Collatinus legt, er sie abstreift. Sein biederer Charakter wird deutlich, der ihn befähigt, Lucretia den Dolch zu übergeben, ein erschütternder Moment! Ein abstoßender, wenn er sich sehr schnell mit der Amme tröstet.
Schwarz waren die Agonisten gekleidet, während die beiden Chordarsteller sich durch weiße Kleidungsteile absetzten. Trotz oder wegen der reduzierten Mittel war das Spiel ungemein intensiv, sogar verstörend, vor allem in der provokant drastischen, zugleich nur durch den Voyeurismus der Umstehenden gemilderten Vergewaltigungsszene. Lucretia wirkte zunächst wie eine Somnambule, scheinbar von ihrem Mann Träumende, wurde hochgehoben und fiel in die Arme des Tarquinius. Schreckhaft erwachte sie und versuchte sich verzweifelt von ihm zu befreien. Das ist so stark herausgearbeitet, dass später die beiden Schilder mit der Aufschrift „#Me Too“, die der weibliche Chorteil und Lucia zeigten, wie unnütze Dopplungen aussahen, zumal nicht deutlich wurde, was außer Mitleid sie mit Lucretia verband.
Große stimmliche Leistungen
Die stark applaudierte Premiere fand in Bad Oldesloe statt, dessen Kultur- und Bildungszentrum nahezu eine Außenstelle der Musikhochschule geworden ist. Nach drei aufeinander folgenden Vorstellungen dort wird die Oper eine Woche später erst und dann nur einmal im Großen Saal des Ausbildungsinstituts zu sehen und zu hören sein. Im Mittelpunkt stehen natürlich die Gesangsolisten, wobei es wieder einige Doppelbesetzungen gibt. Es sang bei der Premiere Annemarie Wolf die Lucretia, Johanna Michalik die Bianca und Celina Denden die Lucia. Tom Kessler war der Collatinus, Jeremy Almeida Uy sein Offizierskollege Junius und Hussain Atfah der Prinz. Besonders hervorzuheben sind die Chorstimmen, der weiblichen, gesungen von Dorothee Bienert, die mit ihrem berührenden Mezzo trotz einer Erkältung beeindruckte, und der kräftige und bewegliche Tenor von Eungdae Han.
Selten hat man solch sinnvolles, zugleich vehementes Agieren in der Musikhochschule erlebt!