Mit einem Bekenntnis geht diese Intendanz zu Ende. Isoldes „Liebestod“ nicht in den Armen Brangänes über dem Leichnam Tristans, vielmehr stehend, außerhalb der Spielfläche, vor dem Publikum, über dem Orchester. Als hätte Willy Decker sein religions-(nicht kirchen-)affines Triennale-Konzept der „Urmomente“, dessen dritter und letzter Durchlauf mit der „Suche nach dem Jetzt“ nun abgeschlossen ist, auf diesen einen Moment ausgerichtet. Fürs Wollen der zurückliegenden Jahre, für Anspruch und Vision noch einmal ein Bild bringen. Eins, das ganz ihm gehört. Und eins, das die Grenze markiert, an der sich Theater und Leben berühren.
Die plötzliche Nähe, die Decker herstellt, indem er seine Sopranistin Anja Kampe, eine mitreißende, eine leidenschaftliche Isolde, im allerletzten Moment von der Bühne ab- und vors Publikum hintreten lässt, hat etwas Beklemmendes. Spielend aus dem Spiel aussteigen, uns die Möglichkeit nehmen, sich zu distanzieren, wenn Musik und Worte endlich im Weltatem wehenden All deckungsgleich werden. Mehr Finale geht nicht, will Decker sagen. Deshalb dieser – technisch gesprochen – Regieeinfall, dieser Zeigefinger, um Theater im Theater abzustreifen und zu sagen: Erreicht ist hier nicht nur das Finale eines Musikdramas, nicht nur das einer Triennale-Spielzeit, sondern (Outing eines praktizierend-bekennenden Zenbuddhisten) das Finale dessen, was die Nirwana-Religion Seinsrätsel nennt, das wir selber sind respektive sein sollen. Dass wir darüber nicht hinweghören, hinwegsehen sollen dürfen, dafür muss uns Anja Kampe dann hautnah auf die Pelle rücken, wie dies sonst nur Zeitgenossen tun mit den bekannt-merkantilen und/oder missionarischen Absichten.
Es hat etwas Überredendes, dieses Decker’sche Finale. Und doch, etwas legt sich in dieser unzweideutigen Überwölbungsabsicht quer. Es ist die Akustik in der Bochumer Jahrhunderthalle, die nicht mitspielen will, jedenfalls nicht gemessen an der Mythisierung, die gerade Decker der verlassenen „Leere“ der Industriekathedralen so wortreich hat zuteil werden lassen. Denn erstens sind sie gar nicht leer. Noch jeder Spielbetrieb hier hat gigantische Aufrüstungsmaßnahmen erfordert, sei es für die Bühne, sei es für den Zuschauerraum – wie auch für diesen Tristan. Und doch: Schon in Reihe Zehn kann von einhüllendem Klang keine Rede mehr sein, was auch damit zu tun hat, dass Decker die unter Kirill Petrenko klangschön aufspielenden Duisburger Philharmoniker in den Graben verbannt. Mit Wehmut denkt man an die Genialität seiner Inszenierung von Frank Martins „Le Vin herbé“, wo er das Orchester so zauberhaft in die Spielfläche hineingenommen hat. Hier ist nun alles einerseits einem Konventionalismus gewichen, was vielleicht Bayreuth abgeschaut sein mag – doch die totgerüstete Jahrhunderthalle ist eben nicht Bayreuth. Kompensiert wird diese, gemessen an der überwölbenden Botschaft trockene Akustik andererseits durch den Effekt, den das Bühnenbild macht.
Wenn die Kampe die Spielfläche verlässt und auf den Steg tritt, dann senkt sich hinter ihr das Himmelsgewölbe als weißes Riesenrechteck deckungsgleich auf die Erde. Aus Himmel und Erde, aus den von Walter Gussmann entworfenen, dank ausgetüftelter Hydraulik frei schwebenden Ebenen, ist ein Sarg geworden. Die Chronik der Nicht-Ereignisse um Treue und Verrat, Mord und Sühne, Ehebruch und Verlangen bricht ab, wird zugeschlagen wie zwei Buchdeckel. Drei Aufzüge lang hatte diese Hydraulik ihr beeindruckend kippendes, drehendes Repertoire abgespult, was dazu führte, dass Anja Kampe und ihr Tristan-Partner Christian Franz auf schrägen Ebenen Halt suchen mussten während der Himmel sich drohend auf sie niedersenken wollte. Decker hat dies zum Anlass für gedehnte metaphorische Deutungen genommen und vor allem mit einem in der Ferne aufgehängten Gestirn, das dann zur Video-Projektionsfläche wird – überzogen. Da hubte doch eindeutig zu viel, wenn die wogende See zum Aquarium und das Aquarium zum Tauchbecken für zwei sich umringend-umschlingende Nackedeis wurde. Man spürte die Absicht.