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Vera-Lotte Boecker (Daphne). Foto: © Monika Rittershaus
Vera-Lotte Boecker (Daphne). Foto: © Monika Rittershaus
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Bukolisches Frostfestspiel: Richard Strauss’ „Daphne“ an der Lindenoper

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Richard Strauss’ 1938 in der Semperoper Dresden uraufgeführte „Daphne“ ist ein schwerer Gewissensbrocken. Das interessierte an der Berliner Lindenoper weder den Gesamtkünstler Romeo Castellucci noch sonst-wen. Castellucci erfand ein auch meteorologisch frostiges Bühnenendzeitspiel mit Vera-Lotte Boecker in der Titelpartie als faszinierendem Mittelpunkt.

Zum Schluss misstraut Castellucci neben Richard Strauss’ Musikdrama von 1938 auch noch dem Verständnishorizont des Publikums von 2023. Für dieses lässt er das Titelblatt von Eliots „The Waste Land“ vom Bühnenboden, damit alle mitbekommen: Es geht um die Vereinzelung des Menschen in der Moderne, der Postmoderne und im Anthropozän generell. Dabei hätte „Daphne“ großes Potenzial, alle Brüche in Strauss’ Spätwerk zu zeigen: In seiner Musik zum Dionysos-Fest brodelt, raunt, schmelzt und jauchzt es mit götterdämmernder Suggestion. Der 100-Minuten-Einakter auf Verse des korrekten Joseph Gregor verleugnet Struktur-Analogien zu Strauss’ revolutionären Reißern „Salome“ und „Elektra“ nicht. Nur heuchelt Strauss diesmal mit der Verwandlung Daphnes in einen Baum Versöhnung – zwischen den Prinzipien des Dionysischen, der zur Fortpflanzung nötigen Lust, mit dem Apollinischen, also der oft nur mit Grausamkeit erlangbaren Glorie des Geistigen. Nietzsche also auch in „Daphne“.

Von Mitschuld an der Glätte dieses Abend kann man die Staatskapelle Berlin und dem seit Daniel Barenboims Rücktritt an der Lindenoper noch wichtigeren Thomas Guggeis nicht freisprechen. Zum einen weiß man durch Salzburg, Hamburg und München, dass Castelluccis szenischen Visionen ein geschärftes musikalisches Profil nur guttut. Zum anderen muss Strauss’ „Daphne“-Musik, wenn man ihr aus gewiss gutgemeinten Ambitionen die manchmal aufrauschende NS-Flaggenhymnik entzieht, anderweitig geschärft werden. Sonst bleibt sie matt und glatt. Es gibt sehr schöne Bläserkombinationen am Premierenabend. Doch wenn es ans erotisch, emotional und enigmatisch Eingemachte geht zwischen dem schuldig werdenden Licht- und Lyrik-Gott Apollo, dem liebevoll begehrenden Leukippos und der spröden Nymphe hört man kaum etwas von Strauss' marktschreiender Potenz und ihrer Ummäntelung durch lyrischen Rausch.

Eine musikalisch ehrliche und mehr als gut gemeinte Orchester-Haltung hätte Castelluccis als Leichentuch für‘s Anthropozän und seine Öko-Katastrophen stehende Schneelandschaft bedrohlich steigern können. Sensationell: So flockig, heftig, sanft und leise rieselte lange kein Schnee mehr vom Schürboden. Die Hirten kommen demgemäß in Skianzügen. Fast wie unfreiwillige Ironie betreffend Gender-Korrektheit ist, dass Geschlechter und sekundäre Geschlechtsattribute in der meteorologisch naheliegenden Textilverpackung kaum erkennbar sind. Nur Daphnes Eltern Peneios (René Pape) und Gaea (Anna Kissjudit) mahnen balsamisch und belkantesk zu korrekter Erfüllung der Riten. Beide Partien gehören zu den tiefst gelegenen für eh schon schwarzen Bass und virilen Alt.

Linard Vrielink als Daphnes pastoraler Sandkasten-Freund Leukippos, Pavel Černoch als hier gar nicht so toxischer Gott ähneln sich. Černoch ist leichtgewichtiger als prominente Partien-Vorgänger wie James King oder Paul Frey. Das veredelt den Charakter Apollos des Gottes, macht Daphnes temporäres Einlassen auf den Störenfried plausibel und rechtfertigt bis zu einem gewissen Punkt sogar den Weichspülmodus der Staatskapelle und Guggeis’ Unverbindlichkeit. Magnus Dietrich dagegen steht in seiner Verkleidungsszene neben den vital-satten Dienerinnen von Evelin Novak und Natalia Skrycka stimmlich auf fast verlorenem Posten. Angesichts von Castelluccis Winter-Apokalypse klingen die vier Hirten von Arttu Kataja, Florian Hoffmann, Roman Trekel und der Chor (einstudiert von Martin Wright) bemerkenswert pulsierend und warm. Zur Musik des Dionysos-Festes, in der sich Strauss unüberhörbar an die ganz späte Grande Opéra um 1900 erinnert, fällt Evelin Facchini ein eurhythmischer Kreisgang für Frauen und starre Formationen für Männer ein.

Vera-Lotte Boecker in der Titelpartei umarmt als einzige den Schnee und den vielleicht letzten Baum des vereisenden Kontinents. Mit ihrer unbedeckten Haut gibt sie sich nicht nur dem Schnee anheim, sondern auch den Blicken des Publikums. Körperlichkeit und körperliche Vereinigung ereignen sich bei Castellucci aber hier wie in einer Strafkolonie gegen physisches Wohlgefühl. Wenn sie sich die nottreibenden Zweige an die Arme steckt, gerät das zur Fortsetzung ihrer Selbstverstümmelung mit neuen Mitteln. Es ist faszinierend, wie sich Vera-Lotte Boecker zu Castelluccis Medium macht und schon beim extrem anspruchsvollen Partiendebüt eine fast makellose Leistung bietet. Umso mehr, weil von ihr sportiver Totaleinsatz und schwebende Töne in höchsten Lagen ohne Pause gefordert werden. Boecker lässt zurecht etwas Distanz erkennen zu den wunderschönen Phrasierungen, mit denen Strauss Daphnes fast frigide Distanz gegen ihre Mitwelt beschönigt. Ganz stark wird Daphnes Szene mit Apollo und ihre explosive Seelenschmerz-Erfahrung beim Tod Leukippos’. Aber gerade deswegen hinterlässt Castelluccis Eiszeit einen schalen fast voyeuristischen Beigeschmack. Nicht zuletzt auch, weil Beat Furrers „Violetter Schnee“ an der Lindenoper und die Einfrierung von Wagners „Götterdämmerung“ durch Elisabeth Stöppler an der Oper Chemnitz noch in eindrucksvoller Erinnerung sind.

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