Wie viele Gäste mag John Cage wohl zu seinen Partys in den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeladen haben? 1944/45 jedenfalls trafen sich bei Cage die Freunde Virgil Thomson, Lou Harrison, Henry Cowell, Ben Weber sowie Merton Brown und entwickelten ein Gesellschaftsspiel der besonderen Art: Jeder Komponist schrieb einen Takt Musik auf Notenpapier, faltete dieses am Taktstrich, schrieb zwei weitere Noten hinzu, auf die der nächs-te Spieler/Komponist aufbauen musste. So entstand eine Ringkomposition, die im Jahr 1982 in New York bei C.F. Peters unter dem Titel „Party Pieces“ herausgegeben wurde.
2010, in Vorbereitung des Projektes CAGE100, spann das Forum Zeitgenössische Musik Leipzig dieses „Kompositionsspiel“ fort. Das FZML, sein künstlerischer Leiter Thomas Christoph Heyde und Dramaturg Sebastian Vaske brachten nach dem Prinzip „as much as possible“ 125 Komponisten/-innen zusammen, die am Projekt „125 Party Pieces“ mitwirken sollten. Cage hätte es bestimmt ein Lächeln entlockt. Die deklariert „weltgrößte zeitgenössische Gemeinschaftskomposition“ konnte im Oktober 2013 im New Yorker Miller Theatre uraufgeführt werden und hatte am 20. Januar 2016 seine europäische Erstaufführung in Leipzig.
Die Vorbereitung des Projekts war für das FZML eine Sisyphusarbeit. Die Gemeinschaftskomposition wurde in fünf Gruppen, respektive in fünf Sätze, unterteilt. Die Einteilung der Komponisten in die entsprechende Gruppe sowie die Reihenfolge innerhalb der Gruppe wurde mittels des I-Ging Münzorakels festgelegt – einem Verfahren, mit dem auch Cage viele seiner Kompositionsparameter und Strukturen seiner Stücke bestimmte. So wurde sichergestellt, dass keine äußeren Einwirkungen oder persönlicher Geschmack die Gesamtkomposition beeinflussen. 1.500 mal wurde das Orakel befragt, bevor die Reihenfolge der Komponisten festgelegt war…
Auch der Kompositionsauftrag unterlag gewissen Regeln: Zu Deutschland, den USA und zu John Cage sollten sie eine besondere Beziehung haben. So erklärt sich, dass ein Großteil aus Deutschland (56) und den USA (58) kam, lediglich 11 Komponisten/-innen kamen aus 10 anderen Ländern. Mehr als fünf Takte beziehungsweise eine Minute Musik durfte nicht geschrieben werden, jeder Komponist erhielt über das FZML das letzte Teilstück des vorangegangenen Abschnitts, um an ihn anzuknüpfen. Eine Besetzung von zehn Instrumenten war vorgegeben: Oboe, Fagott, Trompete in C, Posaune, Schlagzeug (Marimba, Xylophon, Vibraphon), Akkordeon, Klavier, Violine, Viola und Violoncello. Hilfsmittel wie Präparation, Skordatur, Liveelektronik et cetera waren verboten, alle Spieltechniken hingegen erlaubt.
Das Ensemble „Work in Progress – Berlin“ unter dem Dirigenten Gerhard Müller-Goldboom ist prädestiniert für musikalische Entdeckungen der Gegenwart. In der ausverkauften Leipziger Kult-Spielstätte UT Connewitz, einem Lichtspieltheater aus den 20er-Jahren, wurde die Aufführung des zweistündigen Werkes zudem durch Installationen der Videokünstler von Lumalenscape in Szene gesetzt.
Schön wäre gewesen, wenn im Video erkennbar gewesen wäre, wann der „musikalische Staffelstab“ an den jeweils nächsten Komponisten übergeben wurde. Denn während der ersten drei Sätze schwammen die 73 Komponistinnen spürbar auf einer Wellenlinie. Sprechende Musiker oder herabfallende Kieselsteine konnten daran nichts ändern. Es war sogar eine Art Leitmotiv zu hören: C-A-G-E. Was sonst? Für offenbar mehr Abwechslung in der Tonsprache sorgte das Münzorakel in den letzten beiden Sätzen. Hier hat einer der Komponisten Cage beim Wort genommen; unter dem Motto „Waiting for J.“ schwiegen die Musiker 4:22 Minuten. Sie schauten sich erwartend an und um, bis sie plötzlich in hektischer Eile die Bühne verließen.
Das FZML hat für die Faksimileausgabe der 125 handschriftlichen Kompositionen des „Party Pieces Project“ 2014 den deutschen Musikeditionspreis „Best Edition“ erhalten.