Es ist nicht einfach, Altes lebendig zu machen. Das erwies sich einmal wieder am Theater Lübeck, das sich mit zweifelhaftem Mut einer spätbarocken Oper nähern wollte. Objekt war Carl Heinrich Grauns „Montezuma“, vor 265 Jahren in Berlins „Königlicher Oper“ uraufgeführt.
Geografisch schien das Werk wunderbar zu anderen Inszenierungen dieser Spielzeit zu passen, zu Piazzollas „Maria de Buenos Aires“ und Milhauds „Christoph Colomb“ als Abschluss einer Südamerika-Trilogie (Premiere: 26. Januar 2020). Zum Problem wurde allerdings nicht die barocke Musik, zum Problem wurde das Sujet.
Grauns Oper ist durch das Libretto belastet. Es ist Fürstenlob, zudem Lob aus eigener Feder. Kein Geringerer als Preußenkönig Friedrich II., der Alte Fritz, hatte es auf Französisch verfasst, bevor der Text ins Italienische übersetzt und von Carl Heinrich Graun, seinem verehrten Hofkomponisten, vertont wurde. Er, der aufgeklärte Herrscher, verschaffte sich in Montezuma ein Alter Ego, dem er vor allem defensive, friedliebende, seinem Volk dienende Züge verpasste. Wer kannte den Aztekenherrscher seinerzeit schon, der in den Spaniern von den Göttern gesandte, nun wiederkehrende Verstorbene sah? Er wollte, obwohl von anderen gewarnt, nicht bemerken, dass deren Anführer Hernán Cortés ihn und sein Volk mit viel List hinterging. Das Schicksal sollte Preußen nicht ereilen. Friedrich hatte noch als Kronprinz mit Voltaire Briefe gewechselt, woraus sein „Anti-Machiavel“ hervorgegangenen war, die Beschreibung des redlichen, aufgeklärten Monarchen. Sein Opern-Textbuch wirkt wie dessen Nachahmung im dramatischen Gewande. Oder war es ein Manöver, mit dem er die Feinde Preußens täuschen wollte, ein Jahr, bevor er sie für sieben Jahre mit Krieg herzog?
Ein grausamer Vater
Das lässt sich einem Publikum heute schwer vermitteln, nicht mit Grauns schönen Koloraturen und anderen vokalen oder instrumentalen Köstlichkeiten. Ingo Kerkhof als Regisseur mochte das bedacht haben. Statt bei dem Selbstlob zu bleiben, konterkarierte er es mit dem Gegenteil, mit Heiner Müllers „Gräuelmärchen“ aus dem Jahre 1976. Es hat den merkwürdigen Titel: „Leben Gundlings Friedrich von Preußen – Lessings Schlaf Traum Schrei“ und ist eine bissige Satire auf das preußische Königshaus, drastisch in der Sprache und rüde in der Handlung. Die Grausamkeiten des Vaters, des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I., dessen Verachtung und Gewalt dem feinsinnigen Sohn gegenüber und ein unbarmherziger Standesdünkel stehen darin im Vordergrund. Teile von Müllers Text montierte Kerkhof in die Oper hinein. Verwirrend ist das, wenn etwa zur Ouvertüre die Szene gesprochen und gespielt wird, in der der Soldatenkönig seinen minderjährigen Sohn zum „Mann“ machen will, ihn verbal vor seiner Offiziersmeute bloßstellt, ihn zwingt, auf den vorher schon gedemütigten Jacob Paul Gundling zu urinieren. Der war Historiker, sogar Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften, aber eben nicht „vom Stande“ und diente als Hofnarr. Auch die andere Szene schockiert, in der der Vater seinen Sohn bestimmt, bei der Enthauptung seines Freundes Katte zuzusehen.
Wer um die Zusammenhänge in der preußischen Gesellschaft weiß, wer die barocke Oper als Repräsentationskunst zu goutieren vermag, wer zudem Heiner Müllers kritische Sicht kennt, seine theatralische Art zu schätzen weiß, kann mit diesem Gemenge aus Oper und Schauspiel vielleicht etwas anfangen. Die divergenten stilistischen Ebenen werden gehörig vermischt, was zu (gewollten?) Unschärfen führt, weil auch die Rollen getauscht oder verwoben werden. Ein paar Titeleinblendungen wie im epischen Theater nützen allerdings nur dem, der den Text kennt oder die Geschichte. „Der junge Friedrich“ ist zu lesen oder das vieldeutige „Et in Arcadia ego“. So vereitelt Grauns Musik Müllers Kritik, parfümiert sie wie umgekehrt seine Musik zum Nebenereignis wird. Zudem mischt Kerkhof unter die hochkarätige barocke Gesangskunst Müllers Volksmusikzitate. Das frühbarocke „Es geht ein dunkle Wolk herein“ passt noch, Zuccalmaglios romantisches „Kein schöner Land in dieser Zeit“ oder Hermann Claudius’ Hymne der Arbeiterbewegung „Wann wir schreiten Seit an Seit“ werden vom wohltrainierten Chor teils grölend intoniert. Das sind fragliche Zutaten.
Zu viel des Guten
Graun ist musikalisch also nicht genug. Flötenmusik seines Dienstherrn ergänzt die Palette von Zitaten wie die von Bach und Sohn Carl Philipp. Die Vielfalt zu entwirren ist besonders im ersten Teil kaum möglich, da noch mit dem Lebensalter der Figuren gespielt wird. Die Kostüme (Britta Leonhardt) sind leicht barockisierend, doch alle im Berliner oder Preußisch-Blau gehalten. Wenig deutet auf Aztekisches hin, nur einmal wird Montezuma zum Hohn eine Federkrone aufgesetzt. So sind die Welten sogar durch die Kostüme vereinheitlicht, ebenso wie das Örtliche. Anne Neuser verwendet eindrucksvoll den überall wachsenden Naturstoff Reet, der in Reihen gestaffelt die Bühne prägt. Verwirrt, unnötig abgelenkt, muss der Zuschauer sich Zusammenhänge erschließen, kann die Musik kaum wahrnehmen. Wenn trotzdem an manchen Stellen Bewundernswürdiges auf der Szene geschieht, ist es der geschickten Personenführung zu danken, auch den Momenten spannungsvollen Innehaltens und der Darstellkunst der Mitwirkenden. Insgesamt wirkt der zweite Teil geschlossener, weil hier Gesang ruhiger präsentiert wird, die Verhältnisse durchschaubarer sind.
Musik
Stimmlich hat das Lübecker Ensemble im barocken Fach viel zu bieten. Einziger Gast war Julie-Marie Sundal, die Friedrich und seine Alternative als Aztekenfürst grandios sang und spielte. Schön gefärbt war ihr Alt, dazu von kraftvoller Tiefe. Evmorfia Metaxaki gestaltete mit imponierender Leichtigkeit die Eupaforice, Montezumas Braut, und Emma McNairy die Erissena, ihre Vertraute. Beider Fähigkeit mit den barocken Manieren umzugehen, begeisterte immer wieder. Andrea Stadel war für das Böse zuständig, für den zwielichtigen Hernán Cortés, dessen Verstellungen sie ungemein differenziert gestaltete. Ihre anpassungsfähige, allen Anforderungen gewachsene Stimme unterstützt dabei ihr lebendiges Agieren. In weiteren Rollen waren Mitglieder des Internationalen Opernelitestudios eingesetzt. Magdalene Artelt gehört dazu, Clair Austin und Angela Shin, ergänzt durch einen sicheren Chor, dessen Klangbild allerdings im Sopran durch allzu großes Vibrato litt, besonders in dem eingefügten Jesaja-Choral: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“.
Das Orchester wurde vom 2. Kapellmeister und Solorepetitor Takahiro Nagasaki geleitet. Auffällig, mit welcher Intensität Grauns Musik erklang und welche klanglichen Feinheiten er aus dem Orchester herausholte.
Fazit
Der große Beifall für die Solisten und der verhaltene für die Regie bewertete gerecht. Die übergroße Verzahnung der beiden in sich sehr andersartigen Kunstwelten überzeugte oft nicht, überforderte viele, so dass einige Plätze bereits nach der Pause leer blieben.