Salzburg hatte seinen neuen „Jedermann“! Ließen Hofmannsthal und Reinhardt im Mysterienspiel von 1920 noch die Individualität, von Schuld gewaschen und erlöst, ins Grab auf dem Salzburger Domplatz steigen, so Carl Orff und sein Regisseur August Everding 1973 gleich die ganze Menschheit. „De Temporum fine comoedia“ (Das Spiel vom Ende der Zeiten), neuestes Bühnenwerk des bajuwarischen „Carmina burana“-Sängers, das die Festspiele – Salzburg hatte seit vielen Jahren wieder eine Uraufführung! – aus der Taufe hoben, schildert nicht Universalrache und Weltenbrand, sondern predigt für das Menschheitsende Vergebung und Gnade. […]
Carl Orffs Endzeitvision
Soweit die „Handlung“ von Orffs Endspiel. Wie setzt er das „in Musik“? Vor allem läßt er sich seine „Aus-Nacht-zum-Licht-Botschaft“ einiges kosten, zum Beispiel einen riesenhaft aufgeblähten Orchesterapparat (Kölner Rundfunksinfonieorchester), den nahezu hundert Schlaginstrumente (mit Solisten aus Nürnberg, Berlin, München) beherrschen, ferner eine komplette Schlagbatterie auf Magnetophonband, die allerdings akustisch kaum in Funktion tritt, sodann ein Heer von Solisten, den Kölner Rundfunkchor, den Rias-Kammerchor, eine komplizierte Bewegungschoreographie (Beratung: John Neumeier) und vor allem die gigantische, auf „Kosmos“ getrimmte Bühnenlandschaft des großen Salzburger Festspielhauses (Günther Schneider-Siemssen), eine Bühne, wie man sie technisch perfekter, wirkungsvoller, raffinierter ausgeleuchtet kaum jemals sah. Überhaupt ist die Bühne der eigentliche Star der Aufführung: faszinierend allein zu sehen, wie sich der ganze breite Bühnenboden in die Höhe hebt, um die „letzten Menschen“ wie Steine „ins Nichts“ rollen zu lassen.
Obwohl Herbert von Karajans musikalische Leitung instrumentale wie vokale Präzision hätte garantieren sollen, und obwohl das knappe Werk nach vielen Proben auch schon bereits für die Schallplatte aufgezeichnet war, ließ die tönende Komponente von Orffs Apokalypse empfindlich an Gleichgewicht zu wünschen übrig. Was bleibt schließlich von einem Orff-Opus, wenn die Rhythmik nicht scharf akzentuiert ist, wenn Einsätze nur verwackelt über die Rampe kommen?
Orffs Spätstil – das ist immer größer werdende Kargheit und Monotonie selbst seiner eigenen Domäne, des Rhythmus, das ist Auszehrung des Klanglichen, bewußte Unverständlichkeit der (lateinischen, griechischen und deutschen) Texte, ist Hypertrophierung des Instrumentariums zum Bombast. Diesmal aber absorbierte das Visuelle der Bühne Gedanke und Musik, wirkte das künstlich veranstaltete Entsetzen über die letzten Dinge so billig konsumierbar, wie nur irgendein antiquiertes Welttheater-Spektakel aus den zwanziger Jahren Salzburgs. Orffs Endzeitvision fügt sich denn fatal reibungslos in die imaginäre Dramaturgie Salzburgs ein, wird gerade dort empfindlich neutralisiert, wo sich’s über Seele und Körper und die vielfältigen Geschäfte mit deren theatralischer Verwertung am vorzüglichsten im Kaffeehaus plaudern läßt.
Wolfgang Schreiber, Neue Musikzeitung, XXII. Jg., Nr. 5, Okt./Nov. 1973
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