Nun sind „Castor et Pollux“ endlich auch in Berlin angekommen, und – noch unglaublicher – überhaupt zum ersten Mal in der Berliner Theatergeschichte steht ein Werk des französischen Komponisten Jean-Philippe Rameau auf dem Programm eines der drei großen Berliner Opernhäuser. Und erstmals erklingt damit an der Komischen Oper Berlin, diesem Haus, dessen Alleinstellungsmerkmal bis zum Antritt der Intendanz Koskys Aufführungen in deutscher Sprache waren, eine Opernaufführung in französischer Sprache.
Barrie Kosky hat diese Produktion aus der English National Opera, wo sie mit dem Laurence Olivier Award ausgezeichnet wurde, an dem von ihm als Intendant geleiteten Haus neu einstudiert und auch hier zu einem überragenden Erfolg geführt.
Zwei Schwestern, Phébé und Télaïre, lieben denselben Mann, Castor. Obgleich Télaïre dessen Bruder Pollux versprochen ist, verzichtet Pollux zugunsten seines Bruders Castor großmütig auf sie, Hochzeit wird gefeiert – aber Castor stirbt. Im Jenseits dauert das Spiel von Liebe und Eifersucht der Schwestern an, und Pollux macht sich mit Hilfe von Hermes selbst auf, um den Bruder aus der Unterwelt zu retten, wofür er dessen Platz einnehmen muss. Doch der mag um des anderen willen nicht den Vorteil des Lebens genießen. Vater Jupiter zeigt Einsicht mit seinen beiden Söhnen und versetzt sie – auf ewig ungetrennt – als Sternbilder an das Himmelszelt. In der Berliner Inszenierung ziehen sie dazu ihre Schuhe aus und werden vom Vater an beiden Händen in die schwarze Bühnentiefe geführt. In ihr Schuhwerk, als ihr verwaistes irdisches Relikt, fällt ein silberner Sternenregen , in dessen Glanz endlich auch Télaïre baden darf.
In der schlagenden Abfolge von Liebe, Hoffnung, Verzweiflung, Liebeserfüllung, Hass, Trauer, Begehren, Eifersucht, Befriedigung und neuem Trennungsschmerz ist Pierre-Joseph Bernards Libretto zu dieser Oper ein Musterbeispiel für die Theorie der Affekte. Dieses Wechselbad der Emotionen hat der französische Opernreformer kongenial und packend in Musik umgesetzt. Die Partitur macht auch deutlich, wie viel Christoph Willibald Gluck – insbesondere für seinen „Orpheo“ aus Rameaus der Zeit vorauseilender Tonsprache, bis in Details der Instrumentation hinein, gelernt hat. Von ätherischer Schönheit und Innigkeit ist das Duett der Titelfguren.
Die rasche Abfolge von Handlungsmomenten und Balletten in dieser fünfaktigen Tragédie lyrique en musique aus dem Jahre 1754 hat Regisseur Kosky beibehalten, aber in den um etwa 30 Prozent gekürzten Balletteinschüben erzählt er die Geschichte ganz ohne Einsatz von Tänzern, mit dem Solistenensemble Chor und Statisterie in psychedelischer Bilder- und Körpersprache weiter.
Traumbilder der Psychologie auch in der Abfolge der gesungenen Nummern: Mit ihr Gesicht verdeckenden schwarzen Haaren karessieren die Schwestern das gemeinsame Objekt ihrer Begierde, und lassen beide mit gespreizten Schenkeln über Castor stehend, ihre Slips auf den am Boden liegenden sinken. Und einfach, wie schlagend verwandelt sich der schwarzweiß gewandete Chor durch über den Kopf gestülpte, lange Stoffmasken in traurige groteske Dämonen.
Als Gefängnis der Emotionen dient in der Ausstattung von in Katrin Lea Tag ein getäfelter Einheitsraum, gegen dessen Holzwände die Protagonisten wie in einer Gummizelle anlaufen und abprallen. Hebt sich einmal eine Wand, wird der Raum zwar tiefer, aber in seiner Uniformität keineswegs hoffnungsträchtiger. Unter der nur um etwa einen Meter angehobenen Zwischenwand werden die Protagonisten und dann auch der sich in heutigen Tanzbewegungen übende Chor nach vorne gespult.
Ein mächtiger schwarzer, diagonal verlaufender Erdberg ist der absturzgefährdete Zugang zu einer anderen Welt, die sich dann ebenfalls als identisch erweist. Die eigene Hölle auf Erden ist auch die eigene Hölle im Jenseits.
Die Spielhandlung ist ins Heute verlagert. In blauen Anzügen sind die sich liebenden Brüder Castor und Pollux gewandet, die Götter tragen graue Straßenanzüge, Jupiter (Alexey Antonov) auf Kothurnen, mit schwarzen Lederhandschuhen und mit schwarzem, sein Gesicht bedeckenden Schleier am Zylinder. Mercure (Aco Aleksander Bišćević) – mit Hut, aber mit blutigen Fesseln über weißen Turnschuhen und mit sich leise bewegenden, großen weiten Flügeln auf dem Rücken – bequatscht Pollux im Zwischenspiel stumm, den Weg zu seinem Bruder in die Unterwelt anzutreten.
Ein wichtiges Spielmoment dieser Inszenierung sind – analog zur inneren Handlung von Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“ – sich aus dem Nichts streckende Hände. Castor balanciert über und zwischen ihnen, die sich ihm hilfesuchend aus einem Graben entgegenstrecken, eine andere Hand, die sich aus dem diagonal steil durch den Raum laufenden Erdberg zum Schoß von Phébé (emotionsgeladen intensiv: Annelie Sophie Müller) aufreckt, befriedigt die frustrierte Frau manuell.
Hinreißend in ihrem körperlichem und stimmlichem Einsatz Nicole Chavalier als Télaïre, der korpulente aber überaus agile Tenor Allan Clayton, der sich als Castor über die gesamte Bühnenlänge drehend wälzt und der virilen, auch in Unterwäsche trefflich agierende Bariton Günter Papendell als Pollux.
Eine Merite der Aufführung auch das Orchester der KOB, das erstmals mit Barockbögen spielt. Dirigent Christian Curnyn modelliert mit ihm die Models dieser Musiksprache mit einer gleichermaßen auf das Auditorium wie auf die Instrumentalisten im halbhoch gefahrenen Orchestergraben übergreifenden Begeisterungsfähigkeit.
Dabei kehrt der Dirigent die Nähe zu Monteverdi, insbesondere im zweiten Teil des Abends, deutlich hervor.
Der von David Cavelius einstudierte, spielfreudige Chor und das rollendeckende Solistenensemble führen die Koproduktion mit der English National Opera London den Abend zu einem überragenden Erfolg: ungeteilte Ovationen des Publikums.
Weitere Aufführungen: 15., 30. Mai, 6. Juni. 12. Juli 2014.