Er ist kein lammfrommer Chorknabe des Musiktheaters mit weißem Krägelchen und zwischen München und Bremen kein unbeschriebenes Blatt: Tilman Knabe. Der Regisseur, der unter anderem Katholische Theologie studierte, fiel nicht nur an Rhein und Ruhr „aus dem Rahmen“ mit einem sexgeladenen Händel-„Orlando“, einem kindisch-läppischen „Rheingold“ (in dem Alberich als Peepshowkunde onaniert), einer mit nackten Delinquenten geschmückten Puccini-„Turandot“ – Saint-Saëns‘ „Samson et Dalila“ sorgte schon vor einer Kölner Premiere wg. der kriegsüblichen, auf der Bühne aber nicht jedermann plausiblen Massenvergewaltigung und -erschießung für Verwerfungen im Opernhaus und für Anwürfe der ziemlich gleichgeschalteten örtlichen Presse.
Auch im Rhein-Main-Raum sorgte Knabe für Polarisierungen beim Publikum. Ob in Frankfurt mit einem bis auf die Unterhosen ausgezogenen Schubert-„Fierrabras“ oder in Mainz mit Wagners panzerkreuzergestähltem „Tristan“ und da Ponte/Mozarts „Don Giovanni“. Der Mannheimer Operndirektor Klaus-Peter Kehr dürfte also gewusst haben, was er sich einhandelte, als er diesen Regisseur für das Frauenemanzipationsstück „La Wally“ ans Nationaltheater verpflichtete. Seine Premieren-Klientel reagierte wunschgemäß und überwiegend mit Missbehagen. Zu Unrecht!
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Gewiss gibt es so etwas wie die vorherrschende „eigentliche Erwartung“ der keineswegs homogenen Geschmacksträgerschicht gegenüber einem Werk wie Alfredo Catalanis Werk, das 1892 an der Scala in Mailand uraufgeführt wurde und auf dem in Tirol handelnden, damals noch recht frischen Roman Die Geier-Wally der Trivial-Autorin Wilhelmine von Hillern beruht. Es ist eine Oper, geeignet zum Antörnen – das beginnt schon mit dem Ort der Handlung, der im italienischen Original „Hochstoff“ heißt. Gemeint ist wohl Höchsthof, ein hochalpines Dorf. In ihm herrschen patriarchalische Sitten, höhenluftklar definierte Ehrenverhältnisse zwischen den Geschlechtern, wetterfühlige, gipfelstürmische und sogar mörderische Leidenschaften. Es geht um die Selbstverwirklichung von Wally, der Tochter des reichen Ötztaler Grundbesitzers Stromminger. Unerbittlich ist die Dorfgemeinschaft und sie in ihr. Auch die Bergeinsamkeit macht hart und klar. Die Liebe ‚erfüllt‘ sich erst, ein Jahrhundert der Opernliebestode resümierend, als Wally dem sie (zu spät) heimsuchenden wahren Geliebten, den vor ihren Augen eine Lawine erfasst, in den weißen Tod nachspringt. Das ist in veristischer Weise nur schwer auf der Bühne darstellbar, da das Orchester im Graben z.B. nicht von einem Schneebrett zugedeckt werden sollte. Schon aus tarifrechtlichen Gründen nicht (die behelfsweise Bemühung der Illusionsmittel des Films oder der Video-Einblendung kontrapunktieren ggf. die Idee der veristischen Bühnengestaltung am ordinärsten). Was lässt sich mit dieser Geschichte und ihrem Rührpotential heute noch anfangen?
Viel!!!
Viel!!! Ruft Tilman Knabes Inszenierung. Mit drei Ausrufezeichen. Es zeigt sich erst einmal, dass und wie sich das Ötztal in den 1960er Jahren eines behaglich-modernen Wohlstands zu erfreuen begann. Johann Jörg stattete das Wohnzimmer, in dem der unter Strom stehende, am Stock gehende und stimmlich matt bleibende Vater Stromminger seinen Siebzisten feiert, mit den landesüblichen Geweihen an der Wand und mit Panoramafenster aus. Hinter ihm dürfen die Bergeshöhn angenommen werden (um die aber genauer zu sehen, ist es schon zu dunkel). Der langhaarige Zitherspieler Walter kommt in Jeans mit einem Joint zwischen den Fingern des Wegs, um mit Wally das gemeinsam erschaffene Edelweißlied zum Besten zu geben. Tamara Banješević bestreitet die Hosenrolle nach anfänglichen kleinen Irritationen, als wäre sie Offenbachs Muse Niklas. Tochter Wally, auch in Hippie-Outfit, schmollt. Sie sitzt in ihrem mit Jaffa-Anbauprogramm ausstaffierten Jungmädchenzimmer unterm Plakat von Che Guevara. Sie ist mit sich beschäftigt. Ins bedingt feierliche Geschehen greift sie erst ein, als der von ihr zumindest leicht bewunderte Rocker Hagenbach mit seiner Bande aufkreuzt. Das schwarze Tiroler-Corps mit den undurchdringlichen Sonnenbrillen macht Ärger. Der Band-Leader gerät mit dem Gastgeber in Streit. Man kratzt ja auch dem Vater seiner potentiellen Braut nicht ‚Nazi‘ an die Panoramascheibe!
Während Stromminger seine Tochter mit Gellner verheiraten will, der sich bei ihm einschleimt, kreuzt eine Alte, vom Rollator gestützt, die Bühne und hängt Wally ein Amulett um (am Ende wird sie dieser Antipodin im Traum von der ewigen Jugend fatal ähneln). Die Heldin bricht aus und auf zum urbanen gesellschaftlichen Tumult. Chorisch stehen ihr Schwestern im hellen Trenchcoat bei (es mag sich um das Tanja-Bunke-Bataillon handeln). Wochenschauausschnitte von 1967 signalisieren, was damals auf der Höhe der Zeit war: Th. W. Adorno (sekundiert vom Assistenten Habermas), Rudi Dutschke in Action, Friederike Hausmann beugt sich im Galaopernkleid über den soeben erschossenen Benno Ohnesorg, der Räuberhauptmann Baader grinst zusammen mit der Cannstatter Pfarrerstochter Ensslin in die Kamera und das Konterfei der Sozialarbeiterin Meinhof führt zum Demo-Transparent „Kampf dem Patriarchat“. Das Springer-Hochhaus an der Berliner Kochstraße markiert den Gipfel, den es womöglich zu erringen galt.
Der Rest der Höhenflüge und Abstürze ist rasch erzählt. Mit dem zweiten Akt rückt die Produktion von 1967 in etwa zum Jahr 1989 vor. Wally ist nach dem Tod des Vaters nach Hochstoff zurückgekehrt, in dessen Geschäft und Fußstapfen eingestiegen, dem Vater mentalitätsmäßig sehr ähnlich geworden. Sie feiert das erste Firmenjubiläum. „Ideen schaffen Märkte“ prangt als Parole und die Stimmung wirkt ausgelassen. Die Konzernchefin lässt sich mit dem inzwischen auch schon ein wenig arrivierten (und mit Afra verlobten) Hagenbach auf den „Kusstanz“ ein, wird hin und hergerissen zwischen der instinktiven Vorsicht und den Triebkräften aus den tieferen Zonen. Sie wird vor den Augen der Belegschaft gedemütigt, verpflichtet Gellner als Handlanger ihrer mörderischen Rache (der wittert die doppelte Chance seines Lebens und will mit aller Gewalt zu einer schönen und reichen Frau kommen).
Wie singt sich diese Gemengelage aus Leidenschaft, Stolz und Dickköpfigkeit? Ludmilla Slepneva ist eine in den Höhen wuchtige, aber nicht immer mit präzise geführter Stimme begnadete Wally, deren mittleren und warm timbrierten tiefen Lagen umso vorteilhafter zu goutieren sind. Die Wandlungsfähigkeit von der rotzigen, aber doch für den angegriffenen Vater eintretenden Göre zur selbstbewussten Jungunternehmerin, zur zynischen Konzernherrin und schließlich zur alkohol-, medikamenten- und drogenabhängigen Alten ist bemerkenswert. Und dass sie sich aus der oberen Firmenetage leibhaftig ins Sprungtuch der Feuerwehr stürzt, unterstreicht die Bereitschaft, den handfest veristischen Zuschnitt der Produktion mit zu tragen. Roy Cornelius Smith, als Rocker-Brutalo eine völlig stimmige Figur, singt entsprechend zupackend und kann eben auch mit der Kehle zuschlagen. Jorge Lagunes gibt als Gellner den Frauenversteher und mausert sich, indem er von Wally gedemütigt und instrumentalisiert wird, auch mit seinem flexiblen Bariton zunehmend zum Sympathieträger.
Der dritte Akt spielt nochmals 15 Jahre später, also zu Beginn des neuen Jahrtausends. Die Heldin, nun Vorstandvorsitzende der Wally-AG, hält unangefochten die Höhen der Konzernspitze und sich auch im Alltag an der Flasche mit Hochprozentigem fest. Konsequent ist das Ende in der Gegenwart: Wally stirbt, zuletzt der wahren Liebe gewahr, einen weißen Tod. Wahrscheinlich ein Cocktail aus weißen Pillen und weißem Pulver, umringt von lichten Gestalten des bedrängenden Patriarchats. Dies große Weiß ist die Lawine, die die Heldin mitreißt. Ihr Mund ist dabei, in Erinnerung an den Kuss beim Tanz, rot umkringelt. Das Haar darüber mit Brautkranz und Schleier geschmückt.
Grobschmied Seidlmeier
Den „musikalischen Wert“ des Werks muss der Dirigent auf die Goldwaage legen. Alois Seidlmeier aber betätigt sich eher als Grob- denn als Goldschmied. Die Delikatessen des Begehrens und der Nuancen der Erinnerung lässt er kaum genutzt verstreichen, die Spannungsbögen der großen Gefühle macht er platt. Es ist, als habe er an die Trivialität der Ursprungsgeschichte erinnern wollen, die Tilman Knabe doch zu ihrem großen Vorteil aus dem heimatbündischen tiroler Kontext in die real existierende Geierwelt von heute hievte.
Übersehen haben die, die in Mannheim schließlich recht deftig ihren Unmut gegen die neue Wally-Produktion bekundeten, dass Knabe insgesamt in mancherlei Hinsicht zurückhaltender und klüger wurde. Er bietet eine zumindest plausible, d.h. dramaturgisch fast durchweg stimmige Aktualisierung des veristischen Werks an. Die authentische Idee des Verismus zielte auf soziale, politische und zugleich individuell-subjektive „Wirklichkeit“ – und damit war zweifellos die einer virulenten Gegenwart gemeint. Knabe hat seine Aufgabe in emphatischer Weise zutreffend wahrgenommen und offenkundig in Übereinstimmung mit einer Intention der Direktion des Hauses. Auch wenn diese Erkenntnis ungemütlich ist: die TheatergeherInnen sollten sich ihr nicht aus Sehnsucht nach Hochglanzschönheit und Harmoniebedürfnis verschließen. Letzteres ist im Kartenkaufpreis nicht zwingend enthalten.