Der Abend war magnificent: Große Oper im großen Saal – ausgehend von einem dunkel funkelnden und fortdauernd bedeutsamen Sujet, realisiert unter reger internationaler Beteiligung mit besonderer Sorgfalt. Das Teatro Real sparte weder Aufwand noch Kosten. Doch vor dem Vordringen zu den philologischen und kulturpolitischen Fragen einer zweckdienlichen Lorca-Bearbeitung, vor der ruhigen Entfaltung und dem faszinierend energischen Gewimmel der Musik von Mauricio Sotelo drängten sich beiläufig drei Beobachtungen auf zum Rahmen der Veranstaltung in Madrid.
Als das Gebäude, das zuvor so lange künstlerisch tot wie ein Sarg vorm Königlichen Palast lag, 1997 mit charmanter Hispanidad älteren Datums wieder eingeweiht wurde, waren die seitwärtigen Foyers und Séparées schlicht braun getäfelt. Die Nebenräume verströmten den Charme eines „Palasts der Republik“. Inzwischen haben nicht nur die Regierungen, sondern auch die Innenausstattungen gewechselt. Sie wurden entsprechend „konservativ“ – die Wände reich bestückt mit historistisch gerahmten Spiegeln, ziselierten Armleuchtern, Portraits geschichtlich bedeutsamer Madrilenen und edlen Gobelins. Dazu passendes Mobiliar.
Gegenläufig zu dieser Nachrüstung tat sich auf der Bühne einiges zugunsten eines Anschlusses an die ästhetische Gegenwart. Anders als die Staatsopern in Berlin, Paris oder Wien brachte das Teatro Real in den letzten Jahren mehrere großformative neue Arbeiten heraus. Mit ihnen begründete sich eine neue „spanische Linie“ im international auf die eine oder andere Weise homogenisierten Top-Opern-Angebot: Auf die Uraufführung von Cristóbal Halffters „Don Quijote“ folgte bezüglich des Neuen erst einmal eine lange Generalpause, dann aber 2011 Pilar Jurados „La página en blanco“, zuletzt Charles Wourinens „Brokeback Mountain“ – und nun „El Público“ (das ist nicht allzu viel, aber eben doch sehr viel mehr als an den vergleichbaren Häusern).
Auffallend schließlich der nach dem Tod des gerade auch für Madrid so an- und aufregenden Intendanten Gérard Mortier einsetzende Gedächtniskult – solange dieser ja auch schon in Brüssel und Paris, besonders aber in Salzburg umstrittene Manager der moderaten Modernisierungen mit schwächer werdenden Kräften, aber immer noch hinreichend energisch Wegmarken setzte, sollte er unbedingt vor der Zeit weggebissen werden. Mag sein, dass sich jetzt ein partielles Schuldbewusstsein auswirkt und nicht nur das Schielen auf die potentielle internationale Reputation all dessen, was sich an den Namen Mortiers heftet.
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Bei der Einstimmung auf die Premiere wurde „El Público“ als geheimnisumwittertes „dunkles“ Stück charakterisiert. Drei Pferde stehen zum Beispiel als allegorische Figuren bereit und tänzeln als Chiffre für die ungebärdigen Naturgewalten im Allgemeinen und für die Sexualität im Besonderen um die Protagonisten. Freilich ist solche ausgespielte Symbolik nur eine der Komponenten des Stücks. Es geht weiters, und keineswegs nur beiläufig, um die Fragen innovativer Regie und überhaupt das „wahre Theater“ in den 1930er Jahren, mithin also auch um Theatertheorie. Andrés Ibañes sorgte für eine prägnante Reduktion des auf einer Reise nach Cuba entstandenen Dramas von Federico García Lorca. Das gelangte wohl nie zu einer endgültigen Gestalt. Knapp 20 Prozent des kurz vorm frühen Tod vom Dichter einem Freund anvertrauten Manuskripts dürften nun dem Libretto anverwandelt worden sein.
Die Rahmenhandlung bildet die surreal getönte Geschichte des Theaterdirektors Enrique, der in einer als erstarrt gezeigten Beziehung mit seiner repräsentativ-schönen Ehefrau lebt, aber vom früheren Liebhaber Gonzalo zur Rede gestellt wird – wegen der Aufkündigung ihrer gesellschaftlich geächteten Beziehung (die in bildschönen Erinnerungsszenen beschworen wird). Auch wegen seiner mutlosen Art des Theatermachens. Den Theaterprinzipal, dem José Antonio López mit seinem souverän-überragenden Bass alle erdenkliche Seriosität verleiht, treibt dies dazu, sich der einst für revolutionär gehaltenen, wohl maßgeblich von Gonzalo stammenden Theorie eines „Theaters unter dem Pflasterstrand“ zu entsinnen. Er besetzt Shakespeares „Romeo und Julia“ durchaus mit dem Willen zum Skandalisieren – mit zwei Schauspielern. Dieser Regie-Einfall löst gesellschaftliche Verwerfungen größeren Umfangs aus („Revolution!“ Aber welcher Art Revolution ist gemeint – nur die des Theaters, oder auch die des Theaters?).
Im Zentrum der Inszenierung steht die Einspielung eines surrealistischen Stummfilms: Heitere Kommunikation und Missverständnisse von Schattenriss-Figuren – superb! Höchst dekorativ auch der unvermittelt wieder ins Zentrum gerückte Liebhaber Gonzalo: Wie ein gekreuzigter Christus hängt er an einem Stativ über einer kleinen Leiter und wird von zwei Jungs im Tütü blutrot angepinselt. Der Dramaturg des „Theaters unter dem Sand“ fällt der konterrevolutionären Gewalt zum Opfer. Die Mutter verlangt die Aushändigung der Leiche – nachdem die Frage aufgeworfen wurde, ob die Liebe ein Krokodil sei (nicht aber die, ob menschliche Liebe auch gut fürs Krokodil ist). Zwischenzeitlich war zu Anklängen an den Madrigalton älterer Zeiten ein sehr weitreichendes Stichworte zur Assoziation angeboten worden: Das „Meer der Träume“ …
In Entsprechung zum Libretto erscheint Mauricio Sotelos Partitur vielgestaltig, abwechslungs- und kontrastreich. Der in erheblichem Umfang auch in Wien tätige Komponist betont, wie sehr alle musikalischen Momente aus dem Text heraus entwickelt worden seien. Aber es gibt da doch sehr stark überschießende Momente, in denen sich eine ungebärdige und genuin aus verschiedenen musikalischen Zonen resultierende Kreativität Bahn bricht. Die nutzt nicht zuletzt den wohldosierten Einsatz von Flamenco-Musik (mit dem Gitarristen Juan Manuel Cañizares) und erweist so dem colorit locale Referenz. Pablo-Heras Casado gelingt als Dirigent die Balance des Ungleichgewichtigen und die Homogenisierung des Divergierenden überzeugend (für die selbstverliebten Längen im überproportional ausgedehnten ersten Teil ist er nicht verantwortlich).
Von der mittleren Donau hat Sotelo auch das Klangforum mit nach Kastilien gebracht. Die Raum-Klang-Regie, die Mauro Lanza und Peter Böhm mit Sotelos Partitur gelingt, basiert auf durchgehendem diskreten ‚Support‘ für alle akustischen Ereignisse und sorgt in ihrer Raffinesse ein immer wieder für Verblüffung. Das Kompliment hinsichtlich der Effizienz und Delikatesse gilt insbesondere auch für das Regie- und Ausstattungs-Team um Robert Castro und Alexander Polzin. Gelegentlich zitierte die Bühnenausstattung Motive der surrealistischen Malerei herbei und Wandbilder, wie sie in sozialen Kontexten der Stadtgestaltung in den 30er, 40er und 50er Jahren Gang und Gäbe waren. Die Spiegeleffekte für die Szenen des Aufruhrs sind optisch so virtuos gelungen wie die Arie von Isabella Gaudí als Juliette akustisch – da triumphiert die Höhensicherheit, während sich die Sängerin auf den leuchtenden Labyrinth-Linien tief legt.
Man mag sich am Ende des opulenten Abends womöglich fragen, ob das ökonomisch und inzwischen auch massiv politisch gebeutelte Spanien für die Oper keine vordringlicheren Themen kennt als den immer noch nicht vollständig gewonnenen Kampf gegen die Unterdrückung der Homosexualität und die Theaterreformbestrebungen der 30er Jahre. Aber der zu goutierenden Ernsthaftigkeit und großen Sinnlichkeit tut dieser eher theatertheoretische Einwand keinen Abbruch. Die große Oper von Sotelo will „phantastisch“ sein. Und sie ist es. Wer für das wohlorganisiert Phantastische empfänglich ist, wird von „El Público“ in hohem Maß affiziert sein.