Immer dann, wenn in Berlin die großen Bühnen und Konzerthäuser durch ihre Sommerpause den August in einen kulturell eher lauen Monat verwandeln, weiß das young.euro.classic-Festival die Gunst der Stunde zu nutzen und bietet den Daheimgebliebenen und den Zugereisten einen beachtlichen europäischen Musiksommer, der begeistert aufgenommen wird. Aus dem Überraschungserfolg des jungen und ungewöhnlichen Festivals im Sommer 2000 ist folgerichtig ein wichtiger Bestandteil des sommerlichen Kulturprogramms Berlins geworden. Zum sechsten Mal rollte man vom 5. bis 22. August den glamourösen hellblauen Europa-Teppich mit den vielen gelben Klebesternen über der hohen Freitreppe des Konzerthauses auf Berlins schönstem Platz, dem Gendarmenmarkt, aus und machte so schon optisch normale Konzertbesucher zu special-guests eines Galafestivals.
Karl Friedrich Schinkels klassizistischer Bau wurde zu Beginn der achtziger Jahre aufwendig restauriert und ist seither Berlins prächtigster, wenn auch nicht unbedingt akustisch bester Konzertsaal. 38 Büsten bedeutender Komponisten schmücken seine Wände. Weißer Schleiflack, roter Samt, Kristallleuchter, Marmor und Blattgold geben den festlichen Rahmen.
Neue Aspekte
Wiederholungen können eine spannende Angelegenheit sein, wenn es gelingt, Bekanntem und Beliebtem neue Aspekte hinzuzufügen. young. euro.classic 2005 unterschied sich in mehrerlei Hinsicht von den musikalischen Sommerfesten der Vorjahre. Diesmal kamen die Jugendorchester aus Ländern, die weit außerhalb Europas liegen und deren musikalisch-kulturelle Traditionen mit denen Europas wenig zu tun haben.
Über Belarus, die Ukraine und Russland wurde der Blick weit in den Osten auf das Musikleben in Kasachstan und China geleitet. Studentenorchester der Konservatorien Beijing und Shanghai markierten die Eröffnung und die Mitte des Festivals – China, ein Land im Aufbruch, ein Land mit Zukunft, ein Land, das sich mit seinem wirtschaftlichen Aufschwung auf den Weg zur Weltmacht begibt, liebt die europäische, insbesondere die klassische und romantische Musik. Chinesische Musiker, vor Jahren nur spärlich auf den Podien der musikalischen Metropolen vertreten, begeistern inzwischen weltweit das Publikum. Viele Lehrer der chinesischen Hochschulen stammen aus Europa und hier vorrangig aus Deutschland und Österreich, oder sie haben an europäischen und amerikanischen Einrichtungen studiert und sind dabei, das dort Gelernte an die nachfolgende Musiker-Generation in ihrer Heimat weiterzugeben.
Begeisterung für die Musik, Leidenschaft für ihr Instrument und natürlich auch Lampenfieber spürte man bei allen jungen Interpreten, egal ob sie aus China, Schottland, Italien, Österreich oder Deutschland nach Berlin gereist waren, um hier ihr Können unter Beweis zu stellen. Beckmesserei, hier über seltene Patzer zu berichten oder über Stücke, die durch ihren großen Schwierigkeitsgrad, die jungen Musiker auch schon mal überforderten. Was in den 17 Konzerten zählte, war die Frische und Spontaneität der Darbietung auf hohem musikalischen Niveau. Bei der Programmgestaltung weiß sich young.euro.classic der großen Musikkultur verpflichtet, der stark besetzten Orchestermusik des 19. und 20. Jahrhunderts. Die musikalische Jugend von heute verbindet mit dem Orchester vorrangig „groß“ besetzte Musik. Das Festival will in Form der symphonischen Musik das ganze Spektrum des modernen Instrumentariums zeigen und vorführen. Ganz bewusst werden daher viele Musiker eingeladen. Generell sollen sich alle 1.500 Mitwirkenden, gleich ob Geiger, Englischhornist, Tubist, Kontrabassist oder Schlagwerker angesprochen und aufgefordert fühlen.
Traditionell spielen die Jugendorchester wenigstens ein Stück eines zeitgenössischen nationalen Komponisten, teilweise Auftragswerke von young.euro.classic. Das gibt den Konzerten internationale Farbigkeit und dem Zuhörer einen wenn auch kleinen Eindruck vom Musikgeschehen der verschiedenen Heimatländer. Wo hat man sonst schon die Möglichkeit zum Beispiel die Zheng (eine Art altchinesischer Zither) konzertant zu erleben? So waren in den drei Festivalwochen wie in den Vorjahren wieder zahlreiche Kompositionen zu hören, die im hiesigen Konzertleben bislang nicht oder kaum bekannt geworden sind.
Getragen von dem Wunsch über mögliche nationale Vorbehalte hinweg gemeinsam künstlerisch zu arbeiten, sich kennen zu lernen, auszutauschen und zu ergänzen, entstand 2004 das in diesem Jahr intensivierte „Campus-Projekt“: Die Musiker zweier Orchester aus verschiedenen Ländern bilden ein „neues“ Orchester und erarbeiten das Programm gemeinsam. 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges taten dies in diesem Jahr die Junge Philharmonie Russland und die Junge Sinfonie Berlin. Die russischen Musikstudenten lernen und arbeiten am Konservatorium von St. Petersburg und kommen aus allen Teilen der russischen Föderation, während die deutschen Musiker zwar auch aus verschiedenen Landesteilen stammen, sich aber nur zwei Mal im Jahr zu intensiver Probenarbeit treffen.
Unter der Leitung von Alexandré Sladkowski boten sie am 21. August ein deutsch-russisches Programm. Mit Richard Strauss’ „Don Juan“ und Peter I. Tschaikowskys „Francesca da Rimini“ wurde die große Orchestertradition des 19. Jahrhunderts präsentiert, flankiert von je einem nationalen Auftragswerk: Olga Rajewas „Vorfall auf der Straße“ und Anno Schreiers „Nachtstücke (Durchbrochene Szene II)“. Die musikalische Leistung des Campusorchesters war überzeugend und zeigte, dass über Sprachbarrieren hinweg, trotz Festival-Stress und Lampenfiebers motivierte und begabte Musiker innerhalb weniger Tage zu einem homogenen Zusammenspiel finden können. Das Publikum dankte mit lang anhaltendem begeistertem Applaus. Zwei Tage nach dem Berliner Auftritt stellte man das gemeinsam erarbeitete Programm in der Zeche Zollverein in Essen vor. Begleitet wurde das Projekt in Berlin vom RBB Fernsehen und in Essen von einem Kamerateam des WDR unter der Regie des Spaniers Enrique Sánchez Lansch, der mit seinem Kinofilm „Rhythm is it“ über ein Tanzprojekt mit den Berliner Philharmonikern großes Aufsehen erregt hat.
Ausverkaufte Häuser
Wie fest sich das young.euro.classic-Festival schon im Berliner Musikkalender etabliert hat, sieht man an der Auslastung. Reisezeit hin, laue Sommerabende her: Vom ersten bis zum letzten Tag spielte man vor ausverkauftem Haus. Bei vielen Konzerten reichten die 1.562 Plätze bei weitem nicht aus, alle Nachfragen zu berücksichtigen. Lange Schlangen warteten dann vor der Abendkasse auf zurückgegebene Karten. Doch wo sind die vielen jungen Zuhörer geblieben, die diesem Festival in früheren Jahren das Flair und den besonderen Reiz gaben, das fröhliche Lachen und Schäkern vor Beginn und in den Pausen, die laut und lärmend diskutierenden „Experten-Runden“, die gellenden Begeisterungszurufe und -pfiffe? Unauffällig aber beharrlich hat sich peu a peu ein eher mittelaltes Publikum die Mehrheit im Konzertsaal erobert. Die musikbegeisterten pfiffigen Fünfziger haben herausgefunden, dass man nirgends in der Stadt so gut und so preiswert erstklassige Konzerte hören kann. Dem Rechnung tragend sollte man an den (zu) niedrigen Einheits-Eintrittspreis von neun Euro für die nicht mehr ganz so jungen „Besser-Verdiener“ spürbar erhöhen und damit ein keines Basiskapital für das kommende Jahr erwirtschaften.