Unter House Music versteht man eine Dancefloor Stilrichtung, unter Hausmusik einen spießigen Vorspielabend. „Musik in den Häusern der Stadt“ ist weder das eine noch das andere: Das Festivalformat, entstanden in Köln und inzwischen auch präsent in Hamburg, im Ruhrgebiet und in Berlin, lockt seit vierzehn Jahren hochkarätige Künstler in Wohnzimmer und andere ungewöhnliche Aufführungsorte. Kürzlich gastierte mit Vadim Neselovskyi ein junger und vielversprechender Jazzpianist in einem Gründerzeithaus in der Kollwitzstraße 52 – gelegen im Herzen des Berliner Bezirks Prenzlauer Berg.
Noch vor etwas mehr als zwei Jahrzehnten trafen sich in diesem Bezirk Künstler zu Privatlesungen, Privatausstellungen und Privatkonzerten. Der Grund für diese Praxis war kein retrospektiver Hang zum Häuslichen, sondern – eigentlich ganz ähnlich wie in der Epoche des Biedermeier – der Versuch, sich einem alles und jeden kontrollierenden Obrigkeitsstaat zu entziehen. Ganz anders die Stimmung heute, die man als Mixtur aus familiär-nachbarschaftlich und exklusiv und fernab vom Massenbetrieb Konzertsaal beschreiben kann. Vor dem Haus lädt ein Schild ein: „Das Konzert findet im 4. Stock statt“ und nach einem Aufstieg von gefühlten sieben Stockwerken trifft man sich im Konzertsaal mit zirka 50 Plätzen, dem Wohnzimmer der Familie Otte. Im Zentrum ein Bechstein Stutzflügel Baujahr 1908, den der Hausherr nochmals hatte fit machen lassen für die zupackende Hand von Neselovskyi.
Zierlich von Statur ist dieser in Wirklichkeit ein pianistisches Kraftwerk, der in einem über zweistündigen Konzert alles aus dem betagten Instrument heraus kitzelte. Zur Freude von Romanus Otte bestand der Flügel seine wahrscheinlich größte Herausforderung und hielt die Stimmung bis zum Schluss, von einigen Regionen im Diskant einmal abgesehen.
Für den Pianisten war die Wohnzimmer-Atmosphäre auch neu – so genau schaut ihm sonst niemand auf die Finger. Von Frederic Chopin habe es geheißen, so räsonierte der ukrainische Klaviervirtuose Vadim Neselovskyi an dem Abend, er habe in seinem ganzen Leben nicht mehr als 50 Konzerte gegeben, die meisten davon im privaten Kreis oder in den Pariser Salons. Obwohl viel in Konzertsälen unterwegs, als Solist aber auch als Sideman von Größen wie dem Vibraphonisten Gary Burton, dem Pianisten Herbie Hancock oder den Marsalis Brüdern, sah sich Neselovskyi in der Kollwitzerstraße 52 in einer Traditionslinie mit dem polnischen Pianisten und Komponisten.
Hier am Prenzlauer Berg stellte Neselovskyi gemeinsam mit der tschechischen Sängerin Vera Westera neuen Jazz und alte Standards vor. Wenn man von einem russischen Klang im Jazz sprechen kann, dann ist dieser in Vadim Nelovskyi verkörpert: Virtuosität gepaart mit Leidenschaft und Seele – und immer wieder groovende Jazz-Rhythmen. Besonders gelungen die jazzigen Adaptionen einer Bachschen Invention – gerade in dem Zwischenbereich zwischen Klassik und Jazz findet Neselvskyi zu einer eigenen Sprache. Ganz typisch auch für ihn die Einfärbung seiner wuchtigen Akkorde durch den scharfen und zu extremer Höhe fähigen Sopran von Vera Westera, mit der der Ukrainer seit einem Jahrzehnt immer wieder zusammenarbeitet. Keine leichte Kost für die Zuhörer, die hier eine eindrucksvolle Begegnung mit avancierter Jazzmusik hatten. Dem begeisterten Beifall nach dem fast drei Stunden dauernden Konzert nach zu urteilen, wird es nicht ihre letzte gewesen sein.