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Violeta Dinescu: Eine kleine Diabelliana (Erste Seite). © Mit freundlicher Genehmigung Furore Verlag Kassel aus Diabelli Recomposed: 50 Variationen für Klavier, Furore Edition 10413

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Corona als kreative Zeit

Untertitel
Der Krise trotzden: Jennifer Koh, Anders Paulsson, Claudia Bigos
Vorspann / Teaser

Plötzlich steht die eigene Existenz auf dem Prüfstand, auf der Kippe. Die COVID-19 Pandemie hat Menschen an ihre Grenzen gebracht, privat wie beruflich. Musiker, insbesondere Freiberufler gehörten dabei zu einer der verletzlichsten Gruppe von Menschen. Durch den Lockdown wurden ihnen alle Auftrittschancen quasi über Nacht genommen. Aber es gab auch künstlerisch-kreative Wege, die aus der aufkommenden Einsamkeit herausführten.

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„Am folgenden Tag, quasi jede halbe Stunde, erhielt ich wieder einen Anruf, dass ein Konzert abgesagt worden war. Natürlich geriet ich in Panik, denn das ist mein Job. Es ist sogar mehr als Arbeit, es ist mein Leben“, beschreibt die amerikanische Geigerin Jennifer Koh ihre Situation und ihre Gefühle direkt nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie Anfang März 2020. Das öffentliche Leben war quasi eingefroren und die Perspektiven in jeder Hinsicht höchst unklar. Koh selbst hatte zumindest eine Perspektive – ihre Konzerte wurden „nur“ auf einen späteren Termin verschoben und nicht endgültig abgesagt.

Der Umgang mit der Pandemie war oftmals durch den eigenen Charakter und die vorhandenen Netzwerke geprägt. Wer generell dazu neigte, bei aufkommenden Problemen den Kopf in den Sand zu stecken, rutschte schnell in Einsamkeit ab. Wer grundsätzlich eher optimistisch nach vorn blickte, suchte schnell nach einem Umgang mit der Situation und neuen Möglichkeiten.

Im Kreise der Musiker, die oft finanziell und versicherungstechnisch alles andere als optimal abgesichert sind, gab es diejenigen, die schnell resignierten, weil sie nicht mehr vor ihr Publikum treten konnten. Von vielen anderen konnte man aber auch hören, dass nun endlich einmal genug Zeit zur Verfügung sei, um neue Werke, die schon lange vernachlässigt auf dem Schreibtisch lagen, einzustudieren.

Koh hatte schon immer eine besondere Art und Weise, ihr Leben und ihre Projekte zu betrachten: „Ich muss mir immer das Ende eines Stückes vergegenwärtigen, bevor ich beginne, zu spielen. Ich erinnere mich daran, gedacht zu haben, OK, es wird ein Ende der Pandemie geben. Ich stellte mir das Ende vor, und dann überlegte ich, wie ich sein wollte, wenn ich dann zurückblicken würde: ‚Habe ich tatsächlich Menschen geholfen und etwas bewirkt?‘“ Besonders wichtig ist Koh in ihren Projekten und in ihrem Leben „Die Idee der Inklusivität von Stimmen und Menschen, die noch nie zuvor gehört wurden“. 

Koh beauftragte daher junge talentierte Komponisten, die finanziell an der Covid-Situation zu knabbern hatten, ihr ein Stück für Violine solo zu schreiben. Finanziert wurden diese Kompositionsaufträge von bereits etablierten Musikern. Einzige Bedingung an das neue Stück war, dass es 30 Sekunden dauern sollte. Von den 39 Stücken, die Koh erhielt, hatten immerhin alle eine Länge von unter fünf Minuten. Die Stücke sind – wie die Komponisten selbst – höchst unterschiedlich und thematisieren nur zum Teil das Thema Corona.

Die eingereichten Werke führte Koh noch während der Pandemie-Zeit regelmäßig per Zoom aus ihrem Wohnzimmer heraus auf – 2022 ist daraus die CD „Alone together“ entstanden. Koh sagt darüber: „Diese Musik ist nicht nur ein musikalisches Archiv der COVID-19-Pandemie, sondern auch ein Zeugnis für den besten Teil der Menschheit.“ Mit dieser „Menschlichkeit“ erreicht das Projekt einen der zentralen Kerne künstlerischen Wirkens. Mit Blick auf alle Beteiligten dieses Projekts fasst Koh zusammen: „Ihr habt mir in den dunkelsten Tagen der Pandemie Licht und Hoffnung gegeben.“

Ein ähnliches Projekt initiierte der schwedische Saxophonist Anders Paulsson. Er inspirierte 30 Komponisten, Stücke für ihn zu schreiben – die meisten von ihnen hatten noch nie zuvor für Sopran-Saxophon komponiert. Sie betrachteten die Pandemie und diese Kompositionen als eine Möglichkeit, „damit beide Seiten [Komponisten und Interpret] künstlerisch weiter wachsen konnten“. Eine CD mit 23 der eingereichten ist das eine Produkt dieser Aktion – zahlreiche Solo-Konzerte dieser „frisch infizierten“ Komponisten für Sopran-Saxophon sind in Vorbereitung.

In diese Reihe gehört auch die von der Pianistin Claudia Bigos angeregte Komposition von neuen Diabelli-Kompositionen ausschließlich von Komponistinnen. Weltweit sind 50 Werke entstanden, die nicht nur der musikalischen Frauenbewegung huldigen, sondern auch Antonio Diabellis Thema in einer spannenden neuen Klangwelt erscheinen lassen. Auch dieses Projekt wäre ohne die Herausforderung im Umgang mit der Pandemie niemals so entstanden.

  • Alone Together. Jennifer Koh. Cedille Records (www.cedillerecords.org)
  • Solitary Poems for Soprano Saxophone dedicated to Anders Paulsson. BIS-2644
  • Diabelli Recomposed. 50 Variationen von Komponistinnen weltweit für Klavier. Furore Verlag fue 10413, ISMN 979-0-50182-713-8
  • https://www.youtube.com/watch?v=Ht5avd5HIsg – Der Stream des Diabelli-Konzertes. Er beginnt etwa bei 30:30 und nach der Pause bei 1:53:00.

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