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Morton Feldman / Samuel Beckett / Romeo Castellucci: Neither, Jahrhunderthalle Bochum, 2014 – © Ruhrtriennale, Foto: Stephan Glagla, 2014
Morton Feldman / Samuel Beckett / Romeo Castellucci: Neither, Jahrhunderthalle Bochum, 2014 – © Ruhrtriennale, Foto: Stephan Glagla, 2014
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Dampf abgelassen – Romeo Castellucci zelebriert Becketts und Feldmans „Neither“ bei der Ruhrtriennale

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„Neither“ gehört zu den Schlüsselstücken der Moderne, die sich wegen ihres „Rätselcharakters“ fortdauernder Beliebtheit erfreuen. Der Text des in Frankreich lebenden irischen Schriftstellers Samuel Beckett (1906–1989) umfasst 87 Worte – keine Mitteilung oder gar Botschaft, keine Aufforderung zu szenischer oder sonstiger Aktion. Es handelt sich um einen prägnant-diffusen, raunenden Text, der die Aura des Hintergründigen erheischt.

Der erste Vers ruft den Topos des Schattens an, den ‚inneren’ und den ‚äußeren’. Er verweist in undefinierter Form auf jene Sphäre, die zum Beispiel die griechische Antike als der hiesigen und jetzigen Welt entgegengesetzt annahm: das Totenreich Hades. Dem schließt sich ein Verweis auf das „undurchdringliche Selbst“ bzw. „Unselbst“ an – womöglich als Anspielung auf den definitiv entsubjektivierenden Übergang vom Leben zum Tod. Und wenn der Text bei der vollständigen Stille anlangt („dann kein Laut“) und beim „unaussprechlichen Heim“, dann mag Letzteres eine Anspielung auf christliche Vorstellungen von den Endlagerstätten menschlicher Körper oder Seelen darstellen.

Vor dem Hintergrund dieses erratischen minimalistischen Textes und der ihm zugesellten minimal bewegten Musik von Morton Feldman (1926–1987) schleppt sich eine Formulierung durch die Fachliteratur, die für das Problem signifikant ist: dass insbesondere auch das vollständige Fehlen von Regieanweisungen „eine Inszenierung von Neither zugleich einfach, aber auch unmöglich“ mache (Jürgen Otten im Handbuch Experimentelles Musik- und Tanztheater, Kapitel 6.1., Laaber 2004).

Nachdem er zur Eröffnung der diesjährigen RuhrTriennale in Duisburg-Nord eine knochenstaubige Bebilderung von Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“ beisteuerte, hat es sich Romeo Castellucci hinsichtlich der Herausforderung von „Neither“ bei der Bearbeitung für die Jahrhunderthalle Bochum eher einfach gemacht: Auf die weite Fläche unter den majestätischen (und doch gemessen am umbauten Volumen filigranen) Stahlbögen der Jahrhunderthalle Bochum setzte er markante Bildsignale: kurze Szenen unterschiedlicher Größenordnung und Intensität. Sie sind womöglich allesamt auf Situationen eines drastischen Entweder-Oder bezogen (stellen also so etwas dar wie freie Assoziationen zum Stichwort „neither“).

Allerdings sorgte der Regisseur bereits vor der Premiere für einen theoretischen Überbau seines Schaffens, das in seiner Imposanz dem stählernen der Halle wenig nachsteht: „Castellucci“, schreibt Piersandra Di Matteo in postmoderner Verbalorgiastik, „erlaubt sich die Transzendierung des Körpers in der Entfaltung eines ‚hypothetischen Selbst’ an der Verwerfungslinie der Simulation von Geschichten.“

Das „hypothetische Selbst“ zeigt sich zunächst in Gestalt einer jungen Frau mit Kind, die sich vor mehreren Tisch-Stuhl-Kombinationen verschiedener Moderichtungen des 20. Jahrhunderts aufbaut. Ihr kommt offensichtlich das Kind abhanden und sie wird Zeugin einer Versuchsvorführung: Gezeigt wird der Kasten, mit dem es 1935 um Erwin Schrödingers Katze und die Frage von Zusammenhängen der Mikro- und der Makrowelten ging sowie die Frage, ob in der Kiste aufgrund eines zufälligen Zerfalls von Atomen ausgelöste tödliche Reaktion sich noch eine lebendige oder bereits eine tote Katze befindet. Die Frage ähnelt der, ob das Birnchen im Kühlschrank wirklich ausgeschaltet ist, wenn die Kühlschranktür geschlossen ist (Gewissheit darüber ist nur schwer zu erlangen). Um Entweder/Oder geht es auch bei der von Polizisten gestellten Frage nach dem Verbleib bzw. Versteck des Kindes, bei der Aktion der 20er-Jahre-Gangster mit der aus Film und Fernsehen bekannten schwarzen Limousine und einer von vier Ärzten im Outfit der jugendlichen Vätergeneration vorgenommenen Autopsie. Auch da mag es um Entweder/Oder gehen. „Der Rückgriff auf die Epoche der 1940er-Jahre, hergestellt durch die Evokation von Mythologien aus dem Umfeld des Film noir, knüpft ein verschlungenes Band zum Bild und geht im selben Moment auf Distanz“, lässt der Regisseur seine informelle Pressesprecherin erklären. „Keine Erzählung kann sich entwickeln. Die Bilder entfalten anderswo ihre Kraft. Indem sie sich überlagern, entstehen innere Spannungen, Anachronismen, Wahrnehmungstäuschungen, Visionen, die den hermeneutischen Zirkel nicht zu schließen vermögen“.

Zum offenen hermeneutischen Zirkel erwächst mit Morton Feldmans radikal reduzierte Musik mild-matter Widerschein einer einst so radikal gemeinten Moderne. Der Orchesterpart geht aus einem orchestral modifizierten langen Ton hervor, legt sich nach und nach motivische und rhythmische Strukturen zu. Die Sopranistin Laura Aikin stemmt einzelne Silben in den weiten Luft- und Lichtraum und kurzatmige Klanggebinde. Von der Seite zelebrieren die Duisburger Philharmoniker unter der Leitung von Emilio Pomàrico diskret zurückgenommen hinter einem Gazevorhang die einfach anmutenden Klangmuster. Diese treten in scheinbar willkürlicher Abfolge auf und wieder weg, sind unregelmäßig rhythmisiert, können sich überlappen oder auch nicht, sind in hohem Maß durchschossen mit Pausen und von Zeit zu Zeit angereichert durch längere Momente der Stille. Die schwebenden Harmonien wirken, als wohnten sie im Niemandsland zwischen Wohlklang und Dissonanz. Das alles ist längst nostalgisch besetzt und daher so schön – und vielleicht deshalb auch immer wieder einmal ein bisschen langweilig.

Während der sanften Schübe dieser Erinnerungskultur mag einem wieder in den Sinn kommen, dass dieser Morton Feldman aus dem aufdringlich lauten New York und sogar bis Köln kam, eine gewaltige Masse Mann war und – darin stimmen die ihn beobachtenden Zeitgenossen überein – ein enorm geschwätziger Kerl. Mindestens Mittelstreckenmeister im Monologisieren. Schon in den 70er oder frühen 80er Jahren gab der denkwürdige Gegensatz zwischen seiner Persönlichkeitsstruktur und der von ihm geschriebene Musik zu denken: die Dominanz eines meist sehr gemächlichen Fortschreitens und eine Dynamik, die selten weit übers Flüstern hinausgelangt. Dabei ist es geblieben.

Castellucci aber rüstet optisch auf. Ausgiebig fällt das Lichtspiel aus den höchsten Höhen der Halle aus. Von der inzwischen den Medizinern wieder aus der Hand genommenen und in Tuch gehüllten Leiche wird durch einen Theatertrick ein Bein separiert und zur Schau gestellt. Und dann schiebt sich eine große Dampflokomotive mitsamt angehängten Güterwaggons in gleichmütiger Ruhe aus der tiefsten Tiefe des Bühnenraums unerbittlich nach vorn. Dem Zermalmtwerden entgehen die Zuschauer in den vorderen Reihen nur dadurch, dass die Tribüne kraft starker Motoren zurückgeschoben wird und gleichsam die Klügere nachgibt. Der schwarze Koloss aber, am Ziel angelangt, lässt mit gewaltigem Zischen Dampf ab. Der ruhige Schreitchor der Bergleute und -knappen trägt das eine Bein des Entweder zum einsamen Mikrophon auf der weiten Fläche vor und entlässt die Zuschauer mit dieser Bildchiffre des fragmentierten Lebens. „Das Subjekt offenbart am Ende die eigene unbeständige Selbstheit in einem vom Leib abgetrennten Körperteil. Dieses manifestiert sich als das Teilbare (dividuum) des unteilbaren Indi-viduums“. Ja, Castellucci, so sollen sich die TheatergeherInnen merken, „erlaubt sich die Transzendierung des Körpers in der Entfaltung eines ‚hypothetischen Selbst’ an der Verwerfungslinie der Simulation von Geschichten.“ Alles klar?

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