I
Es ist kurz vor Mitternacht. Das Orchestra da Camera Poliziana spielt zum Abschluss seines Konzerts Joseph Haydn's Kinder-Sinfonie No.47 in C-Dur und drei Sätzen. In der Chiesa del Gesù sitzen die Zuhörer in Bänken und auf dazugestellten Stühlen. Einige stehen, angelehnt an barocke Säulen. Hinter dem Orchester leuchtet im Licht elektrischer Kerzenimitationen das Altarbild mit dem Sohn Gottes. Irgendwo im Publikum sitzt Detlev Glanert. Als künstlerischer Leiter des Cantiere Internazionale d'Arte di Montepulciano wird der Komponist aus Berlin in den nächsten Tagen wohl die meisten der über 50 Konzerte und Aufführungen besuchen, in Kirchen, Sälen und Theatern. Aber das Konzert der jungen Musiker aus Montepulciano ist für ihn etwas besonderes. Im Orchester spielen Schüler des Istituto di Musica, auch Ehemalige, semiprofessionell, aus Freude an der Musik, Studenten aus der Region Siena, Lehrer; in diesem Jahr das erste Mal ein sinfonisches Programm. Zusammen mit Orchesterbegründer Luciano Garosi leitete Detlev Glanert von 1989 bis 1993 das Istituto di Musica, kennt viele aus dem Orchester noch aus der Zeit, als sie Kinder waren.
II
Wenn ein Festival auf die vierzig zugeht, gibt es vieles, das man immer wieder und so lange erzählt, bis Erzähler und Zuhörer gleichermaßen meinen, dabei gewesen zu sein, und man sich schließlich auf eine Legende einigt, die allen gehört. Wie jener Abend während des 14.Cantiere 1989, als Hans Werner Henze seinen Kompositionsschüler Glanert, damals Mitarbeiter, und Luciano Garosi, damals Chorleiter, nach der Aufführung der Oper „Macbeth“ auf der Piazza Grande zu sich rief, und sagte: „Ihr beide übernehmt die Musikschule, es ist egal, was ihr macht, aber es muss toll sein.“ Da waren die beiden Anfang 20, die Schule hatte weder Telefon noch Heizung und nur 35 Schüler. Heute sind es 1200.
III
Noch immer lebt das Festival von der Vision, die Hans Werner Henze in den siebziger Jahren hatte. In seinem Manifest zum Cantiere beschreibt er 1989, worum es ihm 1976 ging: „Das Herz all unserer kulturellen Programme liegt in der Kommunikation und der Verpflichtung, neue Formen künstlerischer Kommunikation auszuprobieren und zu entwickeln. Montepulciano ist eine Werkstatt für junge Künstler (Sänger, Schauspieler, Instrumentalisten, Regisseure, Dirigenten, Komponisten, Bühnen- und Kostümbildner), in der allen Teilnehmern die Möglichkeit gegeben wird, klassische und zeitgenössische Stücke zu erlernen und auszuprobieren, und mit traditionellen wie neuen Arten Musik zu machen, zu experimentieren.“ Alle seien Schüler wie Lehrer gleichermaßen. Kein Wort von den Besten der Besten. Vor der Musik sind alle gleich. Die Frage der Qualität berührt in der Kunst wie der Musik vielleicht eher Wesentliches als dass es um Vergleiche ginge.
IV
Henzes Idee vom sozio-politischen Festival, einer permanenten Baustelle der Künste, fasziniert bis heute. Wer hierher kommt, ist besessen. Von der eigenen Arbeit allemal, den ganzen Tag wird geprobt, oft bis nach Mitternacht. Das tun viele „draußen“ auch, in normalen Produktionen an festen Häusern. Aber eben für Geld. Hier bekommt niemand Geld; nicht der Student aus Manchester, der als Teil seines Studiums beim Cantiere in zehn Tagen drei Sinfoniekonzerte, einige Kammermusik und zwei Opern spielt, nicht die international renommierten Sänger, nicht die artists in residence. Es gibt für jeden ein Bett in der Stadt und zu essen in der Mensa. Viele, die jung hier waren, fanden später andernorts und international Anerkennung. Andere lieferten – wie Roland Böer als musikalischer Direktor – von außen wichtige Impulse für das Cantiere. Im März 2011 debütierte als Dirigent an der Mailänder Scala. Das tut auch Montepulciano gut.
V
Im ersten Stock des Istituto di Musica, oberhalb des Theaters gelegen, gleich links die erste Tür: „Sala H.W.Henze“. Im Holzrahmen neben dem Türpfosten hängt vor Notenpapier eine Kreuzstich-Stickarbeit mit seinem Namenszug. Hier probt Luciano Garosi an anderen Tagen mit dem Orchestra Poliziana, heute üben die Bläser aus der Umgebung für das große Abschlusskonzert an Mahlers Zweiter Sinfonie. An der Pinnwand im Flur hängt einsam ein fotokopiertes Portrait von Henze, daneben ein kleines Foto von Detlev Glanert. Wie zwei Reliquien in schwarz-weiß, etwas verschlissen, die niemand so recht abnehmen will.
VI
Wer die Härte kennt, die der Selektionsmechanismus des klassischen Musikbetriebs mit sich bringt, träumt Henzes Traum von einem Festival, in dem alle gleich sind, gern mit; auch wenn er genau weiß, dass die Realität, in der er aufwacht, noch jeden Traum modifizierte. Das Experiment der ersten Jahre, in denen Henze nur über ein freies Orchester verfügte, in dem völlig unberechenbar mal zu viele Celli und nur ein Kontrabass, viele Flöten, aber kein Horn zu finden war, ist einer Professionalität gewichen, die internationale Standards erfüllen hilft. „Ein Festival braucht ein funktionierendes Orchester“, sagt Detlev Glanert. Roland Böer sagt: „Ohne das Orchester des Royal National College of Music in Manchester, einer handverlesenen Auswahl der besten Instrumentalstudenten des College, wäre das Festival nicht durchführbar. Ein Orchester wie dieses, das neben zwei Opernproduktionen noch drei, vier Sinfoniekonzerte spielt und darüber hinaus in verschiedenen Kammermusikgruppen aufzutreten bereit ist, ohne dafür eine Gage zu erwarten, findet sich wohl sonst nirgendwo auf der Welt.“ Ein so junges Orchester mit einem so anspruchsvollen Programm beeindruckt. Allein die Handverlesenheit mag den stutzig machen, der nicht aufhören will zu träumen.
VII
1976 hatten in der Toskana die Kommunisten die Wahl gewonnen. Jetzt nahm man den Kampf gegen Verarmung und Landflucht auf. Henze entwickelte sein Cantiere für die Menschen vor Ort. „Er wollte damals eine Baustelle, die nie endet“, sagt Detlev Glanert. Als er das Cantiere vor drei Jahren übernahm, wollte er an dieses Idealbild zurück, das er sich von seinem Lehrer bewahrt hatte: „Ich wollte wieder viel mehr mit den Leuten vor Ort machen.“ Für ihre dreijährige Amtszeit hatten sich Detlev Glanert und Roland Böer von Dantes Göttlicher Komödie inspirieren lassen: Nach Inferno (2009) und Purgatorio (2010) jetzt Paradiso. Allerdings ein kleines Paradies – die italienische Kulturpolitik kürzte dem Cantiere (wie allen Kulturinstitutionen im Land) 40 Prozent des Geldes. Als wäre die Entwicklung absehbar gewesen, stand seit langem für dieses Jahr „Ariadne auf Naxos“ auf dem Programm. Regisseur Tilman Knabe inszenierte Strauss' Oper über das Verhältnis von Kunst und Kapital ohne jede Illusion von einem Happy End. Auch der Hauptsponsor, die Banco Monte dei Paschi di Siena gab weniger Geld. Man kappte das Programm quantitativ um sechs Tage auf zehn, die geplante Kinderopern-Uraufführung blieb ungespielt. Roland Böer's Fazit angesichts dieser finanziellen Einschnitte: „Wir haben unser Optimum erreicht.“ Detlev Glanert sagt: „Das Spezielle ist, dass wir noch leben.“ Quantitativ betrachtet gab es zwei Opern, elf Uraufführungen, zwölf italienische Erstaufführungen von Werken zeitgenössischer italienischer Komponisten, drei Sinfoniekonzerte, Sprechtheater, Kammerkonzerte mit Künstlern aus der Region. Qualitativ betrachtet: Der italienische Staat kann sich auch weiterhin auf die Bereitschaft der Künstler verlassen, sich selbst auszubeuten. Frage statt Fazit: Was hat Kunst mit Widerstand zu tun?
IX
Ob Musik die Welt verändert? Detlev Glanert sagt: „Jemand hat einmal gesagt, Kunst stellt zumindest immer die richtigen Fragen. Die Antworten muss man selbst finden.“ Hans Werner Henze lebt seit den 50er Jahren in Marino. Das liegt etwas südlich von Rom, am Fuß des erloschenen Vulkans Monte Cavo. Von dort bis Montepulciano sind es gut zwei Autostunden. Dieses Jahr wurde Hans Werner Henze 85. Beim Cantiere war er schon lange nicht mehr. Seine Werke werden gespielt und von ihm selbst wird erzählt, er halte seine Idee für gescheitert. Während man in Montepulciano Mitte Juli mit den Proben beginnt, ist Henze beim Henze Festival in Münster zu Gast. Auf einer Pressekonferenz spricht er von der „Musik als Seelenkunst“. Immer sei es ihm darum gegangen, Kinder in diese Zauberwelt hineinblicken zu lassen, sie zu inspirieren, selbst Musik zu machen. Seine Kinderoper „Pollicino“ wird in Münster bejubelt. Henze hatte sie einst für die Kinder von Montepulciano geschrieben. Viele der Stimmen sollten von den Kindern selbst zu spielen und zu singen sein, von Laien aus dem Ort. Mitunter findet die Kunst Antworten, wo keiner gefragt hat.
X
Zwischen einer Blechbläserprobe und einem Kammerkonzert in der Galerie Opio 5 sitzen Detlev Glanert und Luciano Garosi auf einer Steintreppe, die zu einem verwilderten Garten führt – der scheidende Intendant, für den turnusgemäß nach drei Amtsjahren Schluss ist, und der Musikschuldirektor. Detlev Glanert sagt: „Für den Ort ist die Schule ein großes Glück. Im Grunde ernten wir jetzt die Früchte der kontinuierlichen Musikschularbeit. “ Und das nicht nur, weil ein Großteil der Logistik des Cantiere von den Mitgliedern der Musikschule übernommen wird. Ob sie sich das Cantiere ohne Musikschule oder die Musikschule ohne Cantiere vorstellen können? „Nein“, sagt Luciano Garosi. Bestimmt sei das möglich. Doch dann wäre die Musikschule eine Musikschule wie alle anderen auch. Sie würde im Juni schließen und im Oktober wieder aufmachen. „Und das Festival wäre ohne didaktische Anbindung ein Festival wie jedes andere“, sagt Detlev Glanert, „ohne Vision.“
XI
Und nächstes Jahr? Luciano Garosi probt mit seinen Schülern den Winter über für 2012 die 2011 ausgefallene Kinderoper. Detlev Glanert wechselt in den Aufsichtsrat der Fondazione. Die möchte mit Roland Böer im nächsten Jahr gern weiterarbeiten, will seinen Vertrag verlängern. Er selbst würde auch gern musikalischer Direktor bleiben. Letztlich hänge das aber davon ab, wer neuer künstlerischer Leiter werde – und vom Budget. „Wir bräuchten mindestens eine Zusage über die Höhe der realen Ausgaben von 2011.“ Was diesen Wunsch angeht, kann man 2012 vielleicht an das diesjährige Abschlusskonzert anknüpfen. Mahlers Zweite fängt zwar in Moll an, endet im letzten Satz „Auferstehung“ aber in Dur. Das macht Hoffnung. Vielleicht auf ein dann wieder größeres Paradies.