Natürlich sind Musikfeste auch solche für das Auge. Man vergisst es nur immer so leicht. Und doch baut ja jedes Konzert eine Welt – ganz unabhängig davon, welche Partituren gerade auf den Pulten liegen: alte, ältere, moderne, brandneue. Was einzig differiert, ist der Aufwand, der damit getrieben wird, also das Bewusstsein, das man dafür hat – oder nicht. Entsprechend gibt es die Mucken oder das Hochamt und es gibt ganz viel dazwischen, womit wir umstandslos modulieren können in die jüngste Ausgabe des Klassikers Wittener Tage für neue Kammermusik, in diesem Jahr tatsächlich in seiner 49. Ausgabe zu erleben.
Ein Vorjubiläumstreffen, das nach seiner Ausführungsseite gewohnt stark war, das hinsichtlich seiner kompositorisch-kreativen Seite starkes Gefälle offenbarte. Gleichwohl hatte sich Witten 2017 genau dies vorgenommen: Kräfte anspannen, an einem Punkt zusammenführen, ein Licht anzünden. Eines, das dann tatsächlich alles andere überstrahlt hat und das aktuell eine Feststellung ermöglicht: Es gibt sie, diese wunderbare Prächtigkeit der Neuen Musik. Diesen Glanz, der es gerade unter ihren Anhängern nicht selten am schwersten hat. Das harte Brot zu beißen, gilt angeblich als „ehrlicher“, scheint „authentischer“. Was war passiert?
Blütenregen
Gleich beim Eröffnungsabend dieses rheinisch-westfälischen Traditionsfestivals funkelte es wie in einer Diamantenschleiferei. Wer da nur mit den Ohren dabei war, wer nur am Lautsprecher hing – Veranstalter Westdeutscher Rundfunk sorgte wie gewohnt für breiteste Diffusion, übertrug vierzehn Veranstaltungen – hatte da glatt die Hälfte verpasst, hatten sich doch mit Ensemble Modern und Arditti String Quartet gleich zwei Exzellenz-Werkstätten für diesen Brian Ferneyhough-Abend zusammengeschlossen; siebzehn Spieler, die unter Brad Lubman einen Klangkörper bildeten, genau genommen einen Klangkörper-Pool. Denn dies war der Witz: Ferneyhough hatte für Witten eine Werkgruppe von elf Einzelstücken zusammengestellt, In-nomine-Kompositionen nach einer vom 16. Jahrhundert favorisierten Melodie, was bei Ferneyhough ganz ohne Vorzeit-Patina blieb, übersetzt in alle Größen und Formen, bis in die Besetzungen hinein: Es gab das Cello-Solo, das Duo Klavier mit Schlagzeug, das Trio aus Piccoloflöte, Oboe, Klarinette, natürlich das Streichquartett (gleich vier Mal), es gab das Quintett aus Streichquartett mit Kontrabass und es gab die Ensembleauftritte für zehn und die für zwölf Instrumente. „Umbrations (2001–2017) – Zyklus nach Werken von Christopher Tye für Streichquartett und Ensemble“ das war nicht nur eine, das war ein ganzes Fuder neuer Kammermusik, mit vollen Händen unters Musikvolk geworfen. Ein Blütenregen an Klang als hätten die Ausführenden an den Wittener Maibäumen gerüttelt und als hätte der Komponist sagen wollen: Seht her – unsere Kunst ist reich!
Genau genommen: Seine Kunst ist es. Vor Jahr und Tag war es übrigens das ensemble recherche, das den In-nomine-Anstoß gegeben hatte. Und jetzt also diese mitreißende Arbeit aus der Werkstatt dieses leidenschaftlichen Komponisten mit Strubbelfrisur, mit oft so bonapartistisch vor dem Brustkorb verschränkten Armen. An mangelndem Selbstbewustsein laboriert dieser Künstler gewiss nicht. Und er hat ja Recht damit! Ganze sechzehn Jahre hat Ferneyhough an seinem Zyklus aus Überschreibungen, Einschattungen seines Materiallieferanten Tye gearbeitet. Was man gar nicht wörtlich genug nehmen kann. Arbeit heißt bei Ferneyhough „Knochenarbeit“. Ein Wort, das in einem Interview fiel, adressiert, nicht uninteressant, in Richtung unserer jungen Diesseitigen.
Man kann das schon verstehen: Sollte irgendwann jemand gesucht werden, der für die Wiedereinführung der ARBEIT beim Musikerfinden wirbt – eigentlich könnte dies nach Lage der Dinge nur dieser Brian Ferneyhough sein. Nichts anderes nämlich ist für ihn Komponieren. Man hörte und man sah es an seinen Ausführenden. Musik? Die Arena, in die du hinein musst! Ferneyhough hören (respektive den neuen Wittener Ferneyhough hören) hieß im Subtext immer auch, dieses mitzuhören: Zum Teufel mit dem Sondieren, dem Arrangieren, dem „Zusammen-Stellen“! Zum Konventionston Neuer Musik hat Ferneyhough tatsächlich die allergrößte Distanz gewonnen, insofern ist es vielleicht das schönste Kompliment, das man diesem Komponisten machen kann, dass seine jetzt vorgestellten Sachen nach allem klingen, nur nicht nach Neuer Musik.
Neue Gestalt
Was den Unterschied macht? Der Schritt über das hinaus, was geläufig geworden ist. Das Adorno-Wort aus dessen Aufsatz zu Alterungserscheinungen in der Neuen Musik passt ja noch immer: Es geht ums Aufstörende, um das Verstörte, das sie an sich selber spürt. Erst beides zusammen, so die Diagnose damals, verhilft dem Komponieren, der Lethargie des Wiederholungszwangs zu entgehen. Überholt? – Antwort darauf gaben die Konzerte, auch das sogenannte „Newcomer-Konzert“ im schönen Spielort Märkisches Museum. Die dort vom IEMA-Ensemble zur Ausführung gebrachten Sechs- bis Acht-Minuten-Stücke hinterließen freilich den eher befremdenden Eindruck, als ob hier ein Katalog von Neue-Musik-Konventionalismen abgeladen worden wäre: Reiben über gespannte Felle, dazu Instrumental-Beilagen wie in der Nouvelle Cuisine, Glissandi im kaum Hörbaren, Pizzicati in abwechselnd hohen und tiefen Lagen, Flageoletts, fahle Farben, wehmütige Seufzer – man konnte nur hoffen, dass die sympathischen Newcomer den sich anschließenden Ferneyhough-Abend nicht verpasst haben.
Bei demselben hätten sie dann im Übrigen noch eine weitere interessante Entdeckung machen können: „Umbrations“, das war nämlich alles andere als komplexistische Performance. Als ob der Komponist, dem diese Zuschreibung nachläuft wie ein Schatten, genug von solchem Gerede gehabt hätte, schien er sich hier doch für clarté in der Form entschieden zu haben. Zum Beispiel für die einer rigorosen Klangmassen-Dialektik, wenn Ferneyhough einen Kontrabass zu einem Streichquartett stellte, aber wider Erwarten nicht in dessen Klanggewand einpflegt, sondern dagegen positioniert. In diesem Fall fiel es den Ardittis zu, einen kontrapunktisch gearbeiteten Ensemblesatz als Grundierung, als Folie zu organisieren, damit sich darüber ganz Außerordentliches zutragen konnte; eine Art auskomponierter Überfall.
Vom ersten Takt an ließ Paul Cannon die Saiten wie Peitschenschläge aufs Griffbrett knallen. Vortragsbezeichnung: Violentissimo, so dass man das Gefühl hatte: Da ist jemand, der sich wehrt, dem es zu eng geworden ist, ausgedrückt in „Christus resurgens (after Christopher Tye)“: als ein Stemmen, ein Wegdrücken von dem, was mir die Luft nimmt; immer wütender, entschiedener, je stoischer der Quartettsatz seine Bahnen zog, als ginge ihn dieser Existenzkampf nichts an. – So rhetorisch und nun gar nicht komplexistisch haben wir Brian Ferneyhough selten gehört.
Schwimmende Lieder
Was es sonst noch gab an diesem Witten-Wochenende im kühlen Monat Mai? Einiges von der Sorte „same procedure“. Sehr nett wieder der Ausflug ins Grüne, den Witten-Kurator Harry Vogt seit einigen Jahren im Programm hat. Dieses Mal ging’s zum Hammerteich, der deshalb so heißt, weil er ein Staugewässer ist, das in vorindustrieller Zeit einmal ein Hammerwerk angetrieben hat. Heute geht’s dort eher beschaulich zu, was sicher auch Gordon Kampe aufgefallen war, weshalb er in seiner Installation „Wasser/Eichen/Stimmen“ nach alter Homöopathenregel Ähnliches mit Ähnlichem bediente: mit „Geschichten-Zapfsäulen“, mit im Wald verteilten, an Bäumen wie Vogelhäuschen aufgehängten Lautsprechern, mit Kopfhörern, mit einem gemischten Chor, mit einem Fernchor und mit Liedern, die auf’m Hammerteich spazieren fuhren. Genial, diese Kooperation mit örtlichen Schiffsmodellbastlern!
Zeichen-Sprache
Im Fokus des traditionellen Witten-Gesprächskonzerts, fast so etwas wie der Herzschlag des Festivals, Nicolaus A. Huber. Dass dessen Witten-Start, wie nachzulesen war, ausgerechnet ins Jahr 1969 fiel, ließ sich als Geschichts-Zeichen lesen. Schade nur, dass gerade diese Jahre einer politisch-politisierenden Neuen Musik im Gespräch nur kursorisch behandelt wurden. Sprach Huber von seiner Erfahrung mit Luigi Nono, Hermann Scherchen, namentlich von deren Methode Maske-vom-Gesicht-reißen, spürte man Brisanz. Was darin war Verletzung? Was Prägung? Befragt nach seinem Marxismus heute, gab Huber mit „ist richtig, aber ruht“ eine Antwort, die man mitnahm in die von WDR Sinfonieorchester unter Pablo Rus Broseta besorgte Uraufführung seines Stückes „Split Brain mit vorausgehendem Solo-Shrug“, einem klingenden Beleg dafür, dass Huber an die Stelle der politischen Themen mittlerweile solche der Naturwissenschaften platziert hat.
Zwar hatte seine Handschrift auch früher immer etwas Gestenhaft-Rituelles, beharrte aber doch darauf, Stellung zu beziehen. Im Porträtkonzert rief Uwe Dierksen etwa „Presente für Posaune solo“ in Erinnerung, womit Huber auf ein Ritual der Spanienkämpfer angespielt hatte: Gefallene Kameraden erhielten einen freien Stuhl, wurde deren Name aufgerufen, antwortete der Mitkämpfer: Presente! – Demgegenüber erschien „Split Brain“ nun allerdings seltsam unpräsent, was wohl nicht nur am „vorausgehenden Solo-Shrug“ lag, in dem der Dirigent zu Beginn, zum Publikum gewandt, allerlei drollig bis anzügliche Finger-Zeichen zu vollführen hatte. Samt und sonders Gesten, die sich vom Gehalt getrennt hatten. Nicht anders als in dieser eigentümlich entleerten Musik, in der die gesplitteten Teile und Teilchen nicht mehr zu wissen schienen, was sie mit dem Davor und Danach verbindet. Da war ersichtlich etwas zur Ruhe gekommen.