Hauptbild
(v.l.) Lisa Wittig (Ashley Devon), Aljoscha Lennert (Kyle Harris), Betsy Horne (Claire Devon). Foto: Alvise Predieri

(v.l.) Lisa Wittig (Ashley Devon), Aljoscha Lennert (Kyle Harris), Betsy Horne (Claire Devon). Foto: Alvise Predieri

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Das Brummen, die Sekte, der Kojote: Missy Mazzolis „The Listeners“ am Aalto-Theater Essen

Vorspann / Teaser

Die amerikanischen Opern, zum Erfolg verdammt, da die Häuser auf kein stabiles Subventionssystem zurückgreifen können, ernten hierzulande gerne Naserümpfen. Weniger bei den kanonisierten Heroen der minimal music, dafür aber bei Komponistinnen und Komponisten, die starke, bekannte und kontroverse Stoffe umsetzen. Zum Beispiel die in Boston und Den Haag ausgebildete Missy Mazzoli, deren aktuelle CD für den Grammy nominiert wurde und die u. a. eine Oper nach Lars von Triers „Breaking the Waves“ geschrieben hat. Ihr aktuelles Bühnenwerk, „The Listeners“, erblickte 2022 in Oslo das Licht der Welt, die deutsche Erstaufführung erfolgte am 26. Januar im Essener Aalto-Theater. Ein Abend, der alles hat, was gutes Theater braucht: Engagement, Sinnlichkeit und Ambivalenz.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

„The Listeners“, nach einer Erzählung von Jordan Tannahill und im Libretto von Royce Vavrek, verschränkt drei Themen. Es ist erstens eine Emanzipationsgeschichte, wenn auch eine fragwürdige. Die Lehrerin Claire hört einen permanenten Brummton, der ihr den Schlaf raubt und sie zusehends ihrem Umfeld entfremdet. Sie verlässt Familie und Job, nachdem sie in der Klasse die Nerven verloren und die Schüler beschimpft hat. Verständnis findet sie in einer Gruppe, deren Teilnehmer wie sie den Ton hören und in der einige – zweites Thema – von der Manipulation durch Sendemasten raunen. In Wahrheit werden sie alle – drittes Thema – von Howard manipuliert, dem Anführer der sektenähnlichen Gemeinschaft. 

Howard umgarnt Claire, indem er ihr vorgaukelt, seine „Nummer 2“ zu werden: Sie sei die geborene Anführerin. Das wiederum entfacht die Eifersucht der bisherigen „Nummer 2“, Angela. Der Konflikt eskaliert, die Sekte jagt ihren Führer davon. Claire übernimmt die Leitung, das Angebot ihrer Familie zur Rückkehr weist sie ab. Verzweifelte und Profiteure wechseln also die Seiten. Wer eben noch allein gelassen von seiner Umwelt unser Mitgefühl verdiente, faselt wenig später Verschwörungstheorien nach. Ob es den Brummton überhaupt gibt, bleibt offen. Mazzoli mischt ihn an zentralen Stellen ihrer Oper als Zuspielung ein. Am Ende hängt er als bedrohliches elektronisches Geräusch im Theater, mehr Blubbern als Brummen, und man versteht, dass die Anlässe, die die Menschen erst in Isolation, dann in schlechte Gesellschaft treiben, nicht verschwinden wollen. Dies ist der beunruhigende Kern von „The Listeners“.

Bild
(v.l.) Tobias Greenhalgh (Thom), Betsy Horne (Claire Devon), Heiko Trinsinger (Howard Bard), Deirdre Angenent (Angela Rose), Ensemble und Opernchor des Aalto Musiktheaters. Foto: Alvise Predieri

(v.l.) Tobias Greenhalgh (Thom), Betsy Horne (Claire Devon), Heiko Trinsinger (Howard Bard), Deirdre Angenent (Angela Rose), Ensemble und Opernchor des Aalto Musiktheaters. Foto: Alvise Predieri

Text

Missy Mazzoli beherrscht den treibenden Stil der harmonisch und rhythmisch angereicherten minimal music. Sie hat u. a. bei Louis Andriessen studiert und ihre CD „Verspers for a New Dark Age“ würzt den Somnambulismus von Michael Nyman mit dem Sound von Pop und Rock. Ihr Orchester klingt markant und ausgesprochen abwechslungsreich. Die Klänge stehen scharfkantig gegeneinander, oft in weit auseinanderliegenden Registern. Auf Streicherkantilenen verzichtet sie nicht, aber ihre Liebe gehört sehnsuchtsvollen Trompetensoli, dem Klirren eines präparierten Klaviers und schweren Bassfiguren. Die Tonalität des 19. Jahrhunderts stellt das nicht hinterfragte Einfallstor dar, um ihre Zuhörer mit einer eigenständigen, sinnlichen und modernen Orchestersprache zu versöhnen. Allein beim Gesang verlässt sie der Mut; Mazzoli setzt auf ein Dauerespressivo, anstatt mit Linien und Artikulation die Personen zu charakterisieren. 

Musikalisch zeigt das Aalto-Theater seine Schokoladenseite. Das Orchester und sein GMD Andrea Sanguineti realisieren die Partitur mit großer Freude und vollendeter Balance, die Solisten auf der Bühne sind vorzüglich. Die Amerikanerin Betsy Horne verkörpert die Hauptpartie mit nicht nachlassender Energie und eleganter Linienführung, Ensemblemitglied Heiko Trinsinger als Howard ist eine Naturgewalt von einem Bariton, dem die Menschen verständlicherweise erliegen. Und wie Deirdre Angenent eine Arie parallel zu Turnübungen singen kann, ohne jemals angestrengt oder atemlos zu wirken, bleibt ihr Geheimnis. 

Text

Die aus Kassel stammende Regisseurin Anna-Sophie Mahler erzählt die zwielichtige Geschichte auf der Bühne von Katrin Connan weitgehend ohne Requisiten. Die Stärken der Ausstattung liegen in Licht (Paul Grilj) und Video (Georg Lendorff). Neben der verführerischen Beleuchtung bleiben besonders die riesigen Sängerporträts in Erinnerung. Einzelne Sektenmitglieder treten nach vorne, legen „ihre Beichte“ ab, und dank einer vorweg aufgenommenen Sequenz, die an die Hinterbühne projiziert wird, vertieft sich das Publikum in die Gesichter der Sängerinnen und Sänger. So öffnet die Inszenierung das Herz für die Schicksale der Personen, die wir nicht mehr als Sektenmitläufer abstempeln, so entsteht die Ambivalenz zwischen Verführung und Verlust, die das größte Plus des Werkes ist. Damit trägt der Abend auch über das wichtigtuerische, aber keinen erzählerischen Mehrwert bietende Wort „Anger“ hinweg, das die Bühne zustellt, wie auch über die wenigen allzu realistischen Szenen, an denen das Regieteam nicht vorbeizukommen glaubt. (Sänger mit Pistolen in der Hand sehen leider immer nur aus wie Sänger mit Pistolen in der Hand.) 

In ihrer ersten Szene trifft Claire auf einen Kojoten. Die Regie erhebt ihn zum „Spielmacher“ der gesamten Handlung. Der Tänzer Ivan Estegneev verkörpert das Tier mit feiner und erotischer Eleganz, Pascale Martin hat ihm eine ähnliche Glitzerhose angezogen wie dem Sektenführer. Der Kojote markiert den schmalen Grat zwischen Tierwelt und Zivilisation, die sich in Sachen Grausamkeit nichts schenken. Am Ende übergibt er seine Maske an Claire. Das ist die Warnung, die die Produktion ausspricht. Das Essener Publikum bedankt sich mit herzlichem bis begeistertem Applaus.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!